Neue Volksdroge: Langeweile

Eine gefährlich lockende Mode fordert erste Opfer

Wer so auf den Geschmack gekommen ist, verlangt bald nach Härterem und gerät in die Klauen der Dealer

Nachdem „Action“ das geheime Credo der Neunziger war und das zugehörige Motto „Live fast, die young!“ zum Ende des vergangenen Jahrhunderts noch reichlich Extremsportarten, Manager-Magengeschwüre und Auffahrunfälle produziert hat, wird jetzt in den Rückwärtsgang geschaltet. Langeweile, englisch: „boredom“, heißt der erste Megatrend des neuen Jahrtausends, und wie immer bei derart extremen Modeerscheinungen geht ein gehöriges Suchtpotenzial damit einher. In den USA, wo die Entwicklung bereits vor fünf Jahren einsetzte, hat die Community der „bored“ bereits die Fünfstelligkeit erreicht und ist über das Internet gut vernetzt. Dreh- und Angelpunkte der Szene sind atemberaubend uninspirierte Homepages; man trifft sich in Chatrooms zu Themen wie „die besten Rezepte für Frosties“ oder „Modetrends für Amish-People“ und ödet sich gegenseitig an.

Schleichend, weitgehend unbemerkt von Pädagogen, Eltern und Trendscouts, gewinnt die Bewegung auch hierzulande an Anhängern. Der Trend nimmt Fahrt auf, soweit man das in diesem Zusammenhang überhaupt sagen kann. Auf den Trichter gebracht werden junge Menschen wie so oft durch das Fernsehen. Und hier sind es vor allem die öffentlich-rechtlichen Programme, die den „Stoff“, so der Szene-Jargon für ennuyierendes Material, in die Wohnzimmer bringen. Stundenlange Kameraaufzeichnungen von S-Bahn-Fahrten und Aquarien gelten als Einstieg ebenso wie die berüchtigte „Space Night“ auf Bayern 3.

Wer so auf den Geschmack gekommen ist, verlangt bald nach Härterem und gerät in die Klauen der Dealer, die ihr dubioses Handwerk unter dem ganz legalen Deckmäntelchen von Zeitungskiosken betreiben. Dort ist der Stoff dann auf Papier aufgebracht (Szenejargon: „Pappen“) im Prinzip für jeden frei zugänglich, selbst für Minderjährige. Allerdings erfordert es etwas Übung, aus dem Rohmaterial der Zeitung jene Artikel herauszufiltern, die wirklich „kicken“, wie etwa jene Besprechung aus der Süddeutschen Zeitung über die Autobiografie des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, die mittlerweile zigfach kopiert in der Szene zirkuliert. Auf eigene Gefahr eine Stelle daraus: „Als Beleg für seinen braven Versuch, der Kleinstaaterei entgegenzuwirken, nennt Albrecht den Rückkauf des Evangeliars Heinrichs des Löwen, aber auch ‚die Achtung, die ich unseren ehemals regierenden Fürstenhäusern entgegenbrachte.‘“ Ein Langeweiler aus dem sauerländischen Lüdenscheid, der lieber anonym bleiben möchte, weshalb wir ihn Carsten Bitzhenner nennen, erläutert, wie so ein Stoff in der Szene genutzt wird: „Du merkst schon bei der Überschrift, dass dich der Artikel überhaupt nicht die Bohne interessiert. Dann fängst du an zu lesen und merkst, dass tatsächlich nicht ein interessantes Wort darin steht. ‚Boa, ist das geil langweilig!‘, denkst du und liest weiter, bis ganz zum Schluss.“ Hardcore-Langweiler würden sich damit aber kaum zufrieden geben, sondern sich entweder gleich die ganze Autobiografie von Ernst Albrecht kaufen oder aber von vornherein die schwerer zu beschaffenden Materialien konsumieren, wie etwa das Quartely Journal for Microbiological Analysis oder das Fleckvieh-Magazin. Auch raubkopierte VHS-Kassetten machen in Hardcore-Kreisen gern die Runde, legendär in diesem Zusammenhang der Achtstünder „Sleep“ von Andy Warhol oder eine eineinhalbstündige ARD-Dokumentation über das Adelshaus Schaumburg-Lippe vom Fürsten der Langeweile, Rolf Seelmann-Eggebert. Dazu noch einmal Bitzhenner: „So etwas würde ich nicht nehmen, selbst wenn es mir angeboten würde. Zu gefährlich. Da kann man ganz leicht drauf hängenbleiben.“

Das „Hängenbleiben“ ist jedoch nur eine der Gefahren des exzessiven Langeweilens. In den USA hat die verlockende Mode bereits ihre letale Seite offenbart: Ein 17-Jähriger aus Detroit hatte sich im vergangenen November beim Genuss der Dire Straits-Platte „Sultans of Swing“ zu Tode gelangweilt. Holm Friebe