Berlinalie
: Im alten Westen

Wir befinden uns immer noch als Statisten fürs Warming-up auf dem Firmengelände des Konzerns, der in der Nazizeit 360.000 Zwangsarbeiter beschäftigt hatte. Im einzig von früher übrig gebliebenen Haus hier, das der schreibende Genosse Wladimir Kaminer sinnigerweise nur „Tschibo-Haus“ nennt, hat irgendwann mal Hitlers Bruder gekellnert, heißt es.

Auf der weniger belasteten Sony-Seite ist eine Bar mit dem lächerlichen Namen „Billy Wilder“ und dementsprechenden lächerlichen Postern. In der „Billy-Wilder-Bar“ kostet ein Weizenbier 8 Mark. Die Kellnerin ist empört, wenn man ihr nicht Zehn-Mark-der-Rest-ist-für-Sie gibt, und behandelt einen entsprechend wie einen Penner.

Nach zwei Tagen düsterster Depressionen dann wieder zum Kurfürstendamm, ins Delphi-Kino. Sofort fühlt man sich wieder normal und wie heimgekommen. Endlich wieder normale Menschen und auch wieder ein bisschen Dreck auf den Straßen. Die Berlinale kann jetzt beginnen! Wie schön ist doch der gute, alte Westen – sieht man einmal ab von den kulturbourgeoisen, asozialen Reichen-Visagen in der Paris-Bar, an der man vorbeimuss, wenn man zum Schwarzen Café will! Alle sitzen hier und sehen sympathisch aus! Man kann sogar Zeitung lesen!

Einige sind wie ich vom Potsdamer Platz geflohen und wissen von Schlimmem zu berichten; langsam finden ihre aschfahlen Gesichter wieder zurück zu einer gesunden Farbe.

Im Delphi-Gedränge vor dem Einlass fühlt man sich wieder aufgehoben, als Teil der Menschheit. Menschen reichen einem Brötchen und lächeln dabei verschmitzt. Selbst die Berliner Sparkasse, der Sponsor des Forums, wirkt urplötzlich zutiefst sympathisch.

Zwei Mädchen verteilen Reklamezettel von der Zeit. Man soll die Zettel bitte, bitte ausfüllen, sagt eine vor Beginn der Vorführung. Wenn man sie ausfüllt kriegt man eine Zeit umsonst. Alle freuen sich später lachend, dass die sympathisch-faulen Gehilfshelden in dem lustig-spannenden italienischen Film „Lacapagira“ ununterbrochen Joints rauchen.

Bei meinem Berlinale-Stammimbiss neben dem Theater des Westens gibt’s diesmal zwei Fleischspieße für den Preis von einem. Man möchte den netten Imbissmann umarmen und versucht blinzelnd Zeichen von Freude und Einverständnis zu versenden. Detlef Kuhlbrodt