Folklore mit Shell

Mit dem Anspruch, den USA den Spiegel vorzuhalten, wirkte Walker Evans schulbildend. Das Essener Museum Folkwang zeigt seine Fotografie ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es mag wohl sein, dass Walker Evans rund vierzig Jahre in New York City gelebt hat, und dennoch ist es nicht der Fotograf, den man mit dem Bild der Stadt identifiziert. Bei New York denkt man an die schwärmerischen Perspektiven Andreas Feinigers, die Beschwörung der modernen Stadt durch Berenice Abbott, die Leichen im Blitzlicht Weegees. Evans aber, der die amerikanische Dokumentarfotografie von ihrer theatralischen Pädagogik, von ihrer gewissenhaften Manipulation befreit hat, ist mit New York City nur nach einer Methode in Verbindung zu bringen: Man muss auf Motivsuche gehen. Sein Werk wird durchstöbert. Das J.-Paul-Getty-Museum in den Hügeln von Los Angeles hat dafür insofern gute Voraussetzungen, als es die fotografischen Prints hat, vintage aus dem Labor des Fotografen. Man könnte daraus genauso gut Ausstellungen ziehen mit Titeln wie „Walker Evans: Autos“ oder „Walker Evans: Betten von Freunden“. Ein gewisser Erfolg wäre immer garantiert.

Evans, 1903 geboren, war ein College-Drop-out. Seinen Einstand in New York machte er 1924 als Hilfsbibliothekar im Kartenraum der Public Library. Nach einem Jahr in Paris versuchte er sich in einem besseren New Yorker Buchladen als frankofoner Spezialist. Er diente ein paar Monate an der Börse. So nahm er Abschied von der Ambition, Schriftsteller zu werden.

Fotograf werden kann man in so einer Situation aus Passion, Zufall oder Verzweiflung. Im Fall Walker Evans muss man es Berufung nennen. Als Anwohner mit Aussicht auf die Brooklyn Bridge verschmolz er Gidions Lehren über die Eisenarchitektur des 19. Jahrhunderts mit dem bewundernden Blick des „Modernismus“ – wie es jetzt im ausstellungsbegleitenden Text heißt, in Rückübersetzung eines amerikanischen Gedankens. Dann folgt die Umkehr der Frosch- in die Vogelperspektive. Das Chrysler-Hochhaus im Bau: In Evans’ Sicht ein Komplex aus Dominosteinen, der nicht wirklich gebaut, sondern eigentlich noch gezeichnet aussieht. Über dem fertigen Rumpf dreizehn Stockwerke Betongerüst wie Schuhschachteln. Ein sorgsam konstruiertes Bild eines baulichen Zustands, das bei aller Dramatik des Lichts, der Perspektive und der Konstruktion von Pathos frei ist. Wie auch der Fotograf.

Jedenfalls schafft er es, zurückzuziehen von Brooklyn nach Manhattan. Was ihn dort wirklich verwurzelt, ist nicht Teil dieser Ausstellung, weil es nicht die New Yorker fotografischen Motive sind. Es ist Evans’ lebhafte Verbindung mit dem neu gegründeten Museum of Modern Art (MoMA). Dort geben sich die Kunstdivas mit den Harvard-Genies und den Industriellen die Hand, und im Strudel des Bemühens, eine amerikanische Perspektive auf die europäische Avantgarde zu prägen, zeigt sich Walker Evans mit seinen Bildern neuenglischer Baukultur als idealer Repräsentant. Er betrauert das Amerikanische, während die Kulturamerikaner es noch suchen. Walker Evans bekommt 1938 als erster Fotograf des Museums eine Retrospektive.

Damit setzt Evans den Standard für eine Fotografie, die sich nicht mehr als dienend begreift, weder im Journalismus aufgeht noch in der Illustration. Diese Fotografie behauptet, ein „nationales“ Anliegen zu haben (wie Evans es in der Bewerbung für ein Guggenheim-Stipendium formulierte), und mit dem Anspruch, den Vereinigten Staaten den Spiegel vorzuhalten, begründet Evans eine Schule, die später Robert Frank, Lee Friedlander und Diane Arbus einschließt. Sie sind alle New Yorker. Aber ihre Fotografie ist größer.

Mit dem überregionalen Anliegen erklärt sich auch Evans’ Obsession für kommerzielle Beschriftung. Da steht er auf dem Dach eines Hochhauses unter dem Stahl und Blech gigantischer Schriftzeichen und fixiert auf dem Nachbardach die Leuchtreklame „US Rubber“; natürlich nicht bei Nacht, sondern bei Tag, um sie zu entzaubern. Schrift bedeutet die Herrschaft der Dinge über die Menschen. Statt die Schriftzeichen in seiner Fotografie wegzudrücken, zu unterschlagen, stellt Evans sie heraus. Höchst effektiv ist seine frontale Fotografie einer Ladenfront (White House Garage, ca. 1934) schon deshalb, weil man die Folklore der Etikettierung als Versuch kleinunternehmerischer Selbstbehauptung im Detail entziffern kann, der keineswegs immer glückt. In der Tat sind auch die hochdefinierten „Shell“ und „Texaco“-Typografien nur bedingt corporate identity. Sie sind von Hand nachgemalt.

Im Vergleich der Handwerker gegen die Konzerne nimmt Evans unterschwellig Partei für den kleinen Mann. Das gilt auch für seine U-Bahn-Porträts. Da sieht man aufgelöste, talgige Gesichter, gerahmt von Hüten und Mänteln, wieder begleitet von den Schriftzügen der Ortsnamen, der behördlichen Warnungen, der Reklame und der Zeitungen. Das schwarze Schimmern im Inneren des Zugs symbolisiert den Vorabend des Zweiten Weltkriegs; Frauen mit Schleiern, als wenn sie schon wüssten.

Der Fotograf Evans – ein komplizierter Charakter – war der ideale Mann für die Baisse, den Börsencrash, die Landflucht und die Depression. Mit dem Ende des Krieges, 1945, heuert er bei der Zeitschrift Fortune an, und allein der Name besagt, dass es nun Zeit war für Kompromisse. Wie Evans in den Sechzigerjahren dachte, zeigt im Museum Folkwang die Serie „Dress“, ein Straßenprotokoll der Männerkleidung vom feinen Tuch bis zum gröbsten Kittel. Wohin Evans auch blickte, er sah amerikanische Folklore. Kein Wunder, dass man ihn nicht mit New York identifizierte und er sich nicht mit New York.

1965 wird Walker Evans an die Yale University berufen, auf eine Professur mit dem Titel „Grafik und Design“. So abwegig das für einen Fotografen klingen mag, war es dennoch treffend. Evans hatte die Semantik der öffentlichen Schrift entschlüsselt. Er begann sich von New York City zu lösen, wo die Formel seines Erfolgs dennoch hinterlegt war. 1971 widmete ihm das New Yorker MoMA eine zweite Retrospektive. Seitdem kennt ihn in Amerika jedes Kind.Walker Evans: „New York“. Museum Folkwang, Essen, bis zum 2. April 2000. Achtzig Vintageprints, kein Katalog