Kleine Fluchten

Die Berlinale-Filme der Hamburger Filmförderung erzählen von Grenzen und ihren Überschreitungen  ■ Von Volker Hummel

Was genau ist eigentlich ein Hamburger Film? Ein Film, der in Hamburg spielt? Einer, der dort gedreht wurde, oder einer, der sich mit Hamburger Themen und Mythen beschäftigt (Hafen, Kiez, Hans Albers)? Muss der Regisseur aus Hamburg sein oder vielleicht die ganze Crew?

Die Fragen deuten an, wie schwierig es ist, über das Hamburger Kino auf der Berlinale zu schreiben. Nimmt man die naheliegende geographische Definition als Ausgangspunkt, verbleiben einem zwei Filme, die im Rahmen der Reihe „Neue deutsche Filme“ noch einmal in Berlin zu sehen sein werden: Sebastian Schippers Absolute Giganten und Sönke Wortmanns St. Pauli Nacht. Ergiebiger für den Rezensenten ist eine ökonomische Eingrenzung: Hamburgisch ist, was mit Mitteln der Hamburger Filmförderung finanziert und unterstützt wurde. Das erweitert den Referenzrahmen um Filme wie Rolf Schübels Gloomy Sunday und Jochen Kuhns Fisimatenten, verurteilt aber zugleich jeden Versuch, lokale oder thematische Abgrenzungen vorzunehmen, zum Scheitern.

Wer dieses Jahr auf der Berlinale eine echte Hamburgensie auf der Leinwand sehen möchte, dem bleibt wohl nur Gordian Mauggs Hans Warns – Mein 20. Jahrhundert, der aus Dokumentarmaterial und nachgestellten Szenen ein faszinierendes Seemannsleben rekonstruiert. Die Sehnsucht nach der Fremde, die aus diesem Film spricht, ist vielleicht das einzige verbindende Element der Werke, mit denen sich die Hamburger Filmförderung auf der Berlinale präsentiert. Ob Jochen Hicks No One Sleeps, Matthias Glasners Fandango, Frieder Schlaichs Otomo oder auch Oi! Warning von Benjamin und Dominik Reding, immer geht es um Aufbrüche und Grenzüberschreitungen, die häufig den Tod bringen. Thematisch und formal liegen jedoch Welten zwischen diesen Filmen, die Aufbruchstimmung der Figuren spiegelt die der Filmemacher, die bereit sind, neue Wege zu beschreiten.

In No one sleeps nähert sich Regisseur Jochen Hick dem schwierigen Thema Aids mit den Mitteln eines Thrillers. Seine Hauptfigur Stefan Hein (Tom Wlaschiha) ist ein ostdeutscher Student, der bei einem Forschungsaufenthalt in San Francisco einem Serienkiller auf die Spur kommt, der HIV-Positive Homosexuelle umbringt. Der Film beginnt ein wenig wie Cruising mit charmantem Berliner Akzent, doch Regisseur Hick verliert schon bald die Übersicht, seine Figuren lassen sich kaum in ihren Beziehungen untereinander oder zur Stadt verorten.

Klarer, aber auch näher an bewährten Genre-Regeln verfährt Matthias Glasner in Fandango: Ein Fast-Model (Nicolette Krebitz), ein DJ (Moritz Bleibtreu), ein Wagen voller Drogen und Geld, und auf ihren Fersen der brutale Clubbesitzer Lupo (Richy Müller). Glasner benutzt das bekannte Gerüst, um es in eine erstaunlich moderne Optik zu verpacken. Schnelle Schnitte, Weitwinkel-Einstellungen und ungewöhliche Kameraperspektiven erinnern an Actionfilme aus Hongkong.

Oi! Warning von den Hamburger Zwillingen Benjamin und Dominik Reding ist derzeit wohl im Ausland bekannter als bei uns. Beim Outfest '99, dem Los Angeles Gay and Lesbian Film Festival, erhielt der Film von der Directors Guild of America den „Award for outstanding emerging talent“, und auf dem diesjährigen Sundance-Festival sorgte er für einiges Aufsehen. Auch dieser Film erzählt von einem Aufbruch: Der 17-jährige Janosch (Sascha Backhaus) verlässt sein Elternhaus und zieht zu seinem Kumpel, dem Skinhead Koma (Simon Goerts). In dessen Muskeln, Tätowierungen und männlichen Ritualen findet Janosch die idealen Identifikationsmuster. Die Stärke dieses Schwarzweißfilms liegt darin, mit bis ins letzte durchkomponierten Einstellungen und stilisierten Aufnahmen Skin-Rituale genau ins Bild zu setzen, ohne den Zuschauer selbst zur Identifikation einzuladen.

Dass Grenzüberschreitungen den Tod bringen können, macht am eindrucksvollsten Schlaich mit Otomo deutlich. Der auf wahren Ereignissen beruhende Film erzählt vom letzten Tag im Leben des westafrikanischen Asylbewerbers Frederic Otomo (Isaach de Bankolé) in Stuttgart. Genau schildert Schlaich, wie kleine Zufälle und die exakte Befolgung gesetzlicher Vorschriften aus einem Menschen einen Verfolgten machen, der schließlich zu allem fähig ist. Weder wilde Kamerafahrten noch stilisierte Einstellungen lenken hier von einer Geschichte ab, die gerade in ihrer fast protokollarischen Wiedergabe betroffen macht.

Oi! Warning: läuft in Berlin noch einmal am Sa, 19. Februar, 22.30 Uhr, Cinemaxx 1.Am Sonnabend lesen sie ein Berlinale-Interview mit Gordian Maugg