Im Seelenfahrstuhl echter Saitenkunst

Zur Ästhetik der Luftgitarre und ihrer furiosen Akrobaten

Wer erinnert sich nicht gern an die booze-’n’-blues-getränkten Parties seiner privaten Zehnerjahre? Die „linke Hand, halb zur Faust geballt, ungefähr einen halben Meter neben ihrem Herzen, die rechte Hand irgendwo zwischen Nabel und Schritt, mit Daumen und Zeigefinger eine Bewegung machend, als polierten sie eine Zehncentmünze“. Roel Bentz van den Berg, Verfasser des einzigen Standardwerks zum Thema („Die Luftgitarre. Bowie, Springsteen und all die anderen“, Suhrkamp 1999), kennt seine Pappenheimer: „Ein Lied auf der Luftgitarre spielen ... bedeutet, seinen Text und seine Musik zwischen den Außenmauern der Welt und den Innenmauern der eigenen Seele so laut wie möglich widerhallen zu lassen ... so lange, bis das Echo, das sich mit all dem füllt, wogegen es unterwegs stößt, wie in einem Spiegel aus Schall ein menschliches Antlitz angenommen hat.“

Stimmt. Und es bedeutet noch so viel mehr. Der Luftgitarrenspieler imaginiert sich selbst als absoluten Künstler, der nicht mal mehr ein Medium braucht. Ein Künstler ohne Werk, jedenfalls ohne ein Werk, das in dieser Welt zu besichtigen wäre. Die Musik ist der Seelenfahrstuhl, in den er einsteigt und der ihn mit nach unten nimmt, abwärts, immer weiter abwärts, in sein solipsistisches Fantasiereich, in einen inneren Kosmos, der so schön ist, wie nichts sonst auf der Welt, weil er ihn mit niemandem teilen muss. Nur hier entsteht die absolute Poesie, die nur sie selbst ist – und auch nur ganz sie selbst sein kann, weil sie mit keinem Zuschauer rechnet. Da kommt keiner hinterher.

Aber die „Außenmauern“ lassen sich doch immerhin beschreiben, und sie sind ja durchaus nicht so uniform geklinkert, wie van den Bergs Schnappschuß es hier vielleicht suggeriert. Das Luftgitarrenspiel ist so vielgestaltig wie das Leben. Keineswegs poliert man sein Zehncentstück nur zwischen Nabel und Schritt, sondern auch zwischen Leiste und Knie, und die halb geöffnete andere – zumeist linke! – Hand agiert dann entsprechend etwa auf Höhe des Gürtels, dem übrigens ein paar eherne Nieten nicht schlecht zu Gesichte stehen. In der Tat, auch die Greifhand agiert, will sagen, sie imitiert in abstrahierter Form die allemal kurios flinken Fingersätze des Solisten oder die in abgeklärter Präzision umherrutschenden Barré-Griffe des Riffschrubbers.

Der Grad der Abstraktion freilich kann ganz unterschiedlich sein. In einer ersten Grobdifferenzierung lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Da gibt es zum einen die „Magister“. Jene Air-Akrobaten also, die bereits die Vorschule der echten Saitenkunst durchlaufen haben und nun folglich von ihrem handwerklichen Wissen nicht mehr absehen wollen oder können, auch nicht in dieser Sphäre der totalen Imagination. Ihr Spiel ist dem klassischen Mimesis-Begriff von Aristoteles verpflichtet, also auf die Reproduktion der Wirklichkeit hin angelegt. Es hat freilich immer etwas Beflissenes, und der Idee der Luftgitarre im Grunde Zuwiderlaufendes, wenn diese, ja nennen wir sie ruhig: Naturalisten die akustische Vorlage quasi eins zu eins in gestisch-mimische Zeichen zu transponieren versuchen.

Ihnen gleichsam diametral gegenüber stehen die „Maîtres“. Ihr Spiel ist nicht von dieser Welt, oft furios und chaotisch-amorph, oft auf elementare Formen reduziert, kubistisch, wenn das Wort erlaubt ist. Immer aber offenbart sich hier das Primat der Einbildungskraft, das die akustische Realität in die Schranken weist. Sie sind die wahren Herren der Lüfte, sie fliegen dahin auf ihren Instrumenten, irgendwohin, wohin wissen wir nicht, und ihnen dreht niemand den Saft ab. Niemals.

Drum, wer es wirklich ernst meint mit dieser Kunst – es sind kläglich wenige, wer wüsste das besser als ich –, der tue es ihnen nach! Seid wie sie, seid „Maîtres“!

Frank Schäfer