Crash am Wertehorizont

Mecklenburg-Vorpommern: ein Bundesland voller Ökonischen und Naturparks. Gerühmt werden die Alleen und weiten Felder. Tatsächlich ist dieses nördlichste der neuen Bundesländer eine abgewickelte Industrieregion, aus der bedrohliche Nachrichten kommen. Hass auf Ausländer, Überfälle auf Fremde, Drogenexzesse. Nirgendwo sonst kommen so viele junge Menschen bei Autounfällen ums Leben. Eine Region scheint sich selbst aufgegeben zu haben. Hintergründe von Andreas Willisch

Die überraschendste Beobachtung, die über kurz oder lang alle Besucher Mecklenburgs, der Mark Brandenburg, der Prignitz oder der Uckermark machen müssen, ist, dass es sich bei diesen ländlichen Ansiedlungen, den lieblichen Dörfern und ausgedehnten Feldern, den ökologischen Nischen und den so wenig städtischen Menschen um Hinterlassenschaften ehemals hoch industrialisierter Gebiete handelt. Nicht nur das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt oder die Elektro-Physikalischen Werke in Neuruppin, sondern industrielle Ansiedlungen, die über den gesamten ländlichen Raum gestreut wurden, belegen diesen Befund.

Doch weit mehr noch als die sozialistische Industrieansiedlungspolitik hat die Kollektivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft arbeitsgesellschaftliche Strukturen auch jenseits städtischer Räume geschaffen. Nicht allein an der Größe der bewirtschafteten Flächen oder Tierproduktionsanlagen konnte man sehen, wie gründlich die Landwirtschaft umgestaltet wurde. Vor allem an der betriebsinternen Arbeitsteilung und -organisation war abzulesen, dass der traditionelle Familienbetrieb mit seinen spezifisch subsistär orientierten Strukturen zugunsten moderner arbeitsteiliger Prinzipien abgelöst worden war. Auf diese Weise bildete sich in kurzer Zeit eine ländliche Arbeitsgesellschaft heraus, die sich ganz nachdrücklich von der familienbäuerlichen Landgesellschaft der Bundesrepublik unterschied.

Nach der Vereinigung sollte die ostdeutsche Landwirtschaft erneut in eine familienbäuerlich strukturierte Landwirtschaft umgewandelt werden. Dieses – diesmal kapitalistische – Experiment hat aber genauso wenig im geplanten Sinn funktioniert wie vordem das sozialistische. Für eine Umwandlung der landwirtschaftlichen Strukturen zugunsten von Familienbetrieben fehlten im Osten die Bauern als arbeitsbereite Eigentümer. Zwar erhielten die meisten ehemalig selbstständigen Landwirte ihren Grund und Boden zurück, doch waren sie zu alt, um noch einmal aktiv zu werden. Unter den Landfacharbeitern gab es so genannte Lohnbauern, die in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zwar im Familienverbund arbeiteten und durchaus bereit waren, sich selbstständig zu machen, die aber weder über das Land noch über das Netzwerk der Genossenschaft zur Gründung spezialisierter Produktionsbetriebe verfügten.

Heute dominieren große Spezialbetriebe und gutsähnliche Betriebe die ostdeutsche Landwirtschaft. Tranlin, eine Gemeinde im Südwesten Mecklenburgs, mit 350 Einwohnern wurde schon um 1500 als Bauerndorf urkundlich erwähnt. Im 19. Jahrhundert gab es sechzehn Erbpachthöfe mit etwa vierzig Hektar Land. In den Zwanzigerjahren durften die Pächter das Land erwerben und nannten sich fortan Landwirte. Noch in den Vierziger- und Fünfzigerjahren hatten beinahe alle Tranliner haupterwerblich Arbeit in der Landwirtschaft.

Mitte der Sechzigerjahre arbeiteten sechzig Prozent der Einwohner in der LPG „Frischer Wind“. Die wurde Anfang der Siebzigerjahre in eine Pflanzen- und eine Tierproduktion zerlegt. Noch 1990 gab es vier Rinderställe, eine Bullenmast, eine Schweinemast mit tausend Tieren, zwei Werkstätten für landwirtschaftliche Geräte, eine LPG-Küche und die Büros der LPG. Im Jahr darauf wurde die LPG aufgelöst. Heute bewirtschaftet nur noch ein junger Mann einen Hunderthektarhof im Dorf. Zwar werden die Felder rings um die Gemeinde noch von zwei Großbetrieben bestellt, doch landwirtschaftliche Tätigkeiten sind aus dem dörflichen Leben weitgehend verschwunden. Sie sind bestenfalls noch Hobbys – wie man sie auch im städtischen Raum von Kleingärtnern kennt.

Vergleichbares ließe sich auch für gewerbliche industrieähnliche Monostrukturen zeigen. Ihr Ende und das der LPG hinterlässt postindustrielle Strukturen. Zeitweise explodierte die Arbeitslosenrate auf bis zu fünfzig Prozent. Jetzt hat sich in der Region die Arbeitslosigkeit auf etwa zwanzig Prozent eingependelt. Viele Erwerbspersonen befinden sich in Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes. Die ABM-Brigaden der Gemeinden sind mitunter die größten Arbeitgeber in den Ortschaften. Die Langzeitarbeitslosigkeit steigt drastisch an, ebenso die Zahl derer, die Sozialhilfe beziehen; vor allem Alleinerziehende und damit speziell Kinder sind davon betroffen. Familieneinkommen um die zweitausend Mark sind nicht selten, und mit Mühe versuchen diese Familien, den gesellschaftlichen Normalitätserwartungen zu entsprechen.

Der Wertehorizont sowie die soziale und kulturelle Alltagspraxis der Bewohner des ländlichen Raumes der DDR wurden von der industriellen Arbeitsgesellschaft bestimmt. Betriebe stellten die Sozialisationskerne dieser Gesellschaft dar. Es findet eine strikte Trennung von Erwerbssphäre und Freizeitbereich statt. Individuelle Voraussetzungen für den Erfolg in modernen Arbeitsgesellschaften sind Qualifikationen und Berufe. Der Integrationsmodus wird von der Herkunft auf die Karriere umgestellt. An die Stelle der Verteidigung des eigenen Platzes tritt die Aufstiegs- und Erfolgsorientierung. Auch die arbeiterliche Gesellschaft der DDR hat die Zugangsvoraussetzungen für erweiterte Bildungschancen von der Herkunft abgelöst. Die Karriere vereint für den Erfolg bedeutsame Wertvorstellungen und eine überschaubare Struktur des Vorankommens. Karrieremuster werden zeitlich konstruiert und bilden den gesellschaftlichen Aufstieg innerhalb eines bestimmbaren Zeitrahmens ab. Dieser Aufstieg soll allen Mitgliedern einer Gesellschaft möglich sein, die sich einem Gratifikationsaufschub unterwerfen.

Nach der Wende freilich ist die Basis der Arbeitsgesellschaft nirgends so gründlich zerstört worden wie jenseits der Großstädte im ländlichen Raum der DDR. Eine Beschreibung dessen, was wir dort beobachten können, gleicht in vielen Punkten Berichten aus amerikanischen Ghettos oder französischen Vorstädten. Auch die metropolen Ghettos sind Resultate eines Zerfalls industrieller und arbeitsgesellschaftlicher Strukturen. Die Ghettos in Ostdeutschland sind die ländlichen Räume, auch wenn die Besitzer ihre Häuser noch pflegen und mit erheblichem Aufwand Straßen gebaut werden.

Doch auch die Bewohner dieser Ausgrenzungsgebiete haben den mittelständischen Wertehorizont der Mehrheitsgesellschaft – Arbeit, Karriere, Auto, Eigenheim – noch lange nicht aufgegeben. Gleichzeitig greifen aber gerade junge Leute auf eigene Alltagspraktiken zurück. Einerseits klagen sie Vorstellungen einer integrativen Gesellschaft durch rechtsradikale Gewalt ein, und andererseits etablieren sie eine süchtige Gesellschaft. Ihre wichtigsten Bezugspunkte sind der eigene Körper und die Ethnizität – beides Bezugspunkte, die angeboren, quasi unveränderlich und nicht erwerbbar oder verteilbar sind. Meist werden fehlende Arbeitsplätze oder Verarmung zur Erklärung einer derartigen Entwicklung herangezogen.

Als man die Vorfälle in Eggesin untersuchte – dort hatten im Sommer vorigen Jahres rechtsradikale Deutsche versucht, Vietnamesen umzubringen –, musste man zur Kenntnis nehmen, dass die Täter allesamt aus mittelständischen Elternhäusern kamen, selbst Arbeit oder Lehrstellen besaßen. Auch die Nutzer von Drogen in Diskotheken und auf Parkplätzen stammen aus guten mittelständischen Verhältnissen. Der eine macht gerade seine Lehre, der andere arbeitet als Bäcker. Die Eltern besitzen ein Haus in einer kleinen Gemeinde. Die Jungs besitzen ihrerseits Autos.

Eines der wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit war für die Täter eine geheime Reise zur Internationalen Automobilausstellung nach Frankfurt am Main. Sie bewegen sich also durchaus innerhalb des Werte- und Aufstiegssystems der Gesellschaft. Ist also „Wohlstandschauvinismus“ für diese rechtsradikale Gewalt verantwortlich? Stehen besonders junge Männer so unter Leistungsdruck und Erfolgszwang, dass sie sich gewaltsam Luft verschaffen müssen?

Dafür spricht einiges, doch letzten Endes stellt man mit dieser Argumentation die durchaus dominanten Jugendpraktiken unter einen „Besonderheitsvorbehalt psychischen Fehlverhaltens“, als wollte man sagen, dieser oder jener halte das eben nicht aus, was nötig ist, um die gestiegenen Anforderungen moderner Gesellschaften zu bewältigen. Doch angesichts der Tatsache, dass die Arbeitsgesellschaft immer weniger gesellschaftliche Integrationschancen bietet, verweist das generelle Fehlen erreichbarer Normen und Werte auf einen grundlegenden Umstrukturierungs- und Neuordnungsprozess jenseits der Erwerbsgesellschaft. Mehr noch, die ländliche Gesellschaft Ostdeutschlands scheint auf dem Kopf zu stehen.

Ein kleines Beispiel soll das verdeutlichen: Ich saß neulich mit einem älteren Mann, 57 Jahre alt, zusammen. Er war bis 1991 Rinderzüchter und leitete einen der Ställe der LPG. Seit der Stall wie die gesamte Genossenschaft aufgelöst wurde, hat er nie wieder eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Seit acht Jahren hangelt er sich nun schon gemeinsam mit seiner Frau, die frühzeitig verrentet wurde, von ABM-Stelle zu ABM-Stelle. Daneben Schwarzarbeit, etwas Kaninchenzucht für den eigenen Verzehr und der Versuch, zweitausend Quadratmeter Bauland zu verkaufen; ein Leben immer unterhalb der Armutsgrenze, aber ohne gänzlichen Absturz. Die beiden ehemaligen Rinderzüchter haben vier Kinder – die mittlerweile ausgezogen sind – und einen Enkel, den sie anstelle der Mutter ernähren und erziehen.

Als sie mir ihre Tagesabläufe erzählten, stellten wir zu unserer Überraschung fest, dass der zwölfjährige Enkel von ihnen allen das vollste Tagesprogramm hat. Jeden Morgen verlässt er gegen sieben Uhr das Haus. Gegen drei oder vier Uhr nachmittags kommt er zurück und macht dann seine Schularbeiten. Der Opa dagegen fährt morgens seine Nachbarin zur Arbeit in die Kreisstadt, füttert dann seine Kaninchen und beschäftigt sich auf dem Grundstück. Einmal am Tag füttert er die Kühe eines Bekannten. Seine Frau kocht Essen oder macht die Wohnung sauber. Einmal wöchentlich fahren sie zu Aldi. Das Haus verlässt die Frau ansonsten fast nie.

Wir sehen also eine Situation, in der allein der zwölfjährige Enkel einer geregelten Tätigkeit nachgeht. Für die Großeltern, die sich noch immer im Erwerbstätigenalter befinden, gibt es nur sporadische Verpflichtungen außerhalb des eigenen Grundstücks. Immer wenn der Enkel nach Hause kommt, sind die beiden Vorbilder schon da.

Das ist kein Einzelfall. Eine soziologische Untersuchung des Arbeitsmarkts in Neuruppin erbrachte erstaunliche Ergebnisse: Dort findet sich eine umgekehrte Zweidrittelgesellschaft. Umgekehrt, weil der Begriff für die alte Bundesrepublik bedeutet, dass zwei Drittel mehr oder weniger in Wohlstand leben und ein geregeltes Einkommen beziehen. Im Arbeitsamts-bezirk Neuruppin ging im Gegenteil nur noch ein Drittel der Beschäftigten einer unbefristeten, mehr oder weniger gesicherten Tätigkeit nach, ein zweites Drittel rüttelt an den Toren dieser Welt, immer auf dem Sprung, noch Einlass zu finden. Die Leute dieses Drittels erhalten von Zeit zu Zeit einen Arbeitsplatz, hin und wieder eine ABM-Stelle oder eine Weiterbildung. Das letzte Drittel – die Überzähligen – erhält nichts mehr von alledem und wird beim Arbeitsamt vom Pförtner weggeschickt, weil ihm ohnehin nicht mehr zu helfen ist.

Sieht man sich das Alter der Leute an, so fällt auf, dass sich im ersten Drittel vor allem die bis zu 35-Jährigen finden, im zweiten Drittel hauptsächlich die zwischen 36- und 45-Jährigen, und im letzten sind die Leute, die älter als 46 Jahre alt sind. Mit zunehmendem Alter und dem Fortgang des deutschen Vereinigungsprozesses steigt das Risiko, zu den „Überzähligen“ zu gehören. Vergegenwärtigt man sich noch einmal, welcher Modus mittelständische Gesellschaften integriert – nämlich die aufstiegsorientierte Karriere –, kann man nur zu dem deprimierenden Schluss kommen: Wenn man es bis 35 nicht geschafft hat, schafft man es nie und bleibt auf die eine oder andere Weise Problemfall des Sozialstaats.

Ohne erwerbszentrierte Kriterien wie Beruf, Qualifikation oder Leistung werden neue oder eben auch ältere Verteilungsmerkmale verhandelt. Der Wunsch nach Differenzierung und Unterscheidung wird auf Basis der Herkunft realisiert. Die rechtsradikalen Jugendlichen folgen demnach nur anderen Zuschreibungskriterien – Kriterien, die ihnen keiner wegnehmen kann –, als die karriereorientierte Gesellschaft vorgibt, um damit aber zum gleichen Ziel zu gelangen. Im Grunde genommen setzen sie den Klientilismus der Gesamtgesellschaft mit den Mitteln des Randes fort.

Je weniger sich gesellschaftliche Normen in bestimmten Zeitabschnitten erreichen lassen, desto gewalttätiger drängen sie auf Unterscheidung und Abgrenzung. Der rechtsradikale Rassismus unterscheidet sich vom Nationalsozialismus dadurch, dass er nicht auf ein exzeptionelles Herrenmenschentum und einen Blut-und-Boden-Mythos zurückgreift, sondern nationalistische Bevorzugung einfordert. Nicht Überordnung einer überlegenen Rasse, sondern die Besserstellung von Personen, die sich benachteiligt fühlen, ist die Formel der neuen Rechten.

Man darf nun nicht glauben, dass das weniger gefährlich sei als der Nationalsozialismus. Die brutalen Überfälle und Mordversuche belegen das Gegenteil. Nur lässt sich jetzt erklären, warum nationalistisches Gedankengut gerade auch in den Mittelschichten so stark verwurzelt ist: „Die Angst vor dem Absturz“ geht um. Die meisten Menschen glauben, dass der Sozialstaat nationaler Prägung zuerst ihre Ansprüche befriedigen muss, ehe er das Geld anderweitig verteilt.

Im ländlichen Raum demonstrieren besonders die Landwirte und ihre Verbändevertreter diesen Klientilismus. Ob Ökosteuer oder Sparpaket: Gerade die ostdeutschen Landwirte jammern, dass der Staat ihnen das letzte Hemd nehme. Beispielsweise sollen die Landwirte Mineralölsteuer bezahlen wie alle anderen. Der Leiter eines Landwirtschaftsamtes hat die gesicherte Stellung landwirtschaftlicher Betriebe so dargestellt: „Gute Betriebe wirtschaften betriebswirtschaftlich plus/minus null, und die Subventionen sind dann der Gewinn.“ Einer von drei Gesellschaftern einer Agrar GmbH hat dann seinem Dorf kundgetan: „Wenn wir noch einige Jahre weiter so die Stütze kriegen, werden wir Millionäre.“

Im Dorf wird das mit einiger Verwunderung, mit Neid und Unverständnis aufgenommen. Den hohen Subventionsgewinnen der Betriebseigentümer stehen die Löhne für Beschäftigte in der Landwirtschaft gegenüber, die die geringsten im Vergleich mit anderen Branchen sind. Zudem werden vor allem in den Spezialbetrieben viele Traktoristen nur befristet eingestellt.

Wie stark sich die sozialen Unterschiede auseinander spreizen, wird auch daran deutlich, dass die einen inzwischen ihre Häuser luxussaniert haben – blendend weiße Fassaden, schmiedeeiserne Zäune und große demonstrative Feldsteine zur Zierde im Vorgarten, ähnlich wie vordem im Gutspark –, während die anderen an der gleichen Stelle in ihrem Garten Kartoffeln und Bohnen anbauen. Nicht dass ihnen das nicht zu gönnen wäre, nur sollte man bei aller Selbstverständlichkeit bedenken, dass hier nicht wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, unternehmerisches Erfindertum oder dergleichen Ursache der sozialen Unterschiede sind, sondern die europäische Verteilung von Steuermitteln.

Hier schafft der Sozialstaat die Unterschiede! Diese Art Interessenpolitik ist in unserer Gesellschaft derart verwurzelt, dass es einen wundern müsste, wenn die einen oder anderen nicht versuchen würden, aus allem Kapital zu schlagen, irgendeine Ressource zu mobilisieren, um am großen Verteilungsapparat mitspielen zu können. Die ethnische Differenzierung ist dabei ein Mittel, das leichter als mühsam errungene Aufstiegserfolge Ehre und Stolz stiftet.

Aber nicht alle Jugendlichen werden Nazis. Auf einem Parkplatz an der Peripherie der mecklenburgischen Kreisstadt Parchim – dem Eichberg – treffen sich junge Leute morgens um fünf Uhr, nach Feierabend sozusagen, nachdem sie in der Diskothek nach Technomusik getanzt haben. Man wirft ein paar Pillen ein, dealt mit härteren Drogen, hängt ab und schafft sich so schnelle Befriedigung und Glücksmomente. Doch man müsse „sich schon ganz genau auskennen“, damit man beim Konsum unterschiedlicher Drogen nicht abstürzt.

Zudem sei auch der Handel mit dem Stoff nicht ungefährlich, sowohl in der Öffentlichkeit als auch intern. Erst neulich hätten konkurrierende Jugendliche einige Dealer mit Baseballschlägern krankenhausreif geschlagen. Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags fahren sie dann nach Hause, um dort noch weiterzumachen. „Mit den Eltern gibt das keine Probleme, die haben ja selbst schon mit fünfzehn oder sechzehn mit dem Rauchen angefangen.“ Die Jugendlichen schaffen sich eine eigene Kombination von kultureller Praxis (Diskothek), sinnfreier Mobilität an den Tankstellen und auf Parkplätzen sowie körperlicher Leistungsfähigkeit.

Es ist die Modernität individualistischen Zusammenkommens, die dem Alltag etwas Sensationelles verleiht. So unterscheiden sie sich von der harmlosen Provinzialität ihrer Eltern und der rassistischen Vergemeinschaftung der neuen Rechten. Auf diese Weise kann man auf Gratifikationen verzichten, die man irgendwann einmal einlösen könnte, wenn man die ganze Leiter einer Karriere mühsam emporgerobbt wäre. Was zählt, ist das Hier und Jetzt, ist, was man in seinem Innern spürt, was der Körper bei dieser Ochsentour durch die Nacht hergibt.

Und wenn man es überlebt hat und nicht wie tausende andere von der Polizei am Sonntagmorgen vor einem der Alleebäume aufgelesen wird, hat man wieder einen Tag geschafft. Sie gehen wieder zu ihrer Lehrstelle oder zum Bäcker arbeiten, nicht weil es eine Erfüllung ist, diesen Job zu machen und zu wissen oder auch nicht, was auf einen mit 45 oder 50 wartet.

Parkplatz, Tankstellen, Autos, Drogen, Waffen, ausländerfreie Zonen und so weiter – keiner würde auf den Gedanken kommen, dass diese Metaphern bedeutende Begriffe aus dem Leben Jugendlicher auf dem ostdeutschen Land sind. Spaß- und Hassgesellschaft, Sozialstaatsfaschismus und Autonomie – was diese zauberhaften Dörfer und ökologischen Nischen anbetrifft, sind dies die wichtigsten Stichwörter.

Andreas Willisch, 37, aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt, Ausbildung zum Matrosen, inzwischen Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, lebt in Berlin. Promoviert zum Thema „Die Überflüssigen“. Eine ausführliche Version des Textes ist in der Zeitschrift Mittelweg 36 (Hamburg, Dezember 1999, 98 Seiten, 18 Mark) erschienen