Pinochets wundersame Genesung

Chiles Ex-Diktator zeigt sich in der Heimat topfit. Regierungsmitglieder fordern, ihn vor Gericht zu stellen

SANTIAGIO taz ■ Er kam, sah und grinste. Danach ging er nach Hause. Schon nach weniger als neun Stunden Untersuchungen im Militärkrankenhaus fühlte sich Augusto Pinochet wieder fit und ließ sich in seine Villa in Santiago bringen. Den Rollstuhl hatte er im Krankenhaus gelassen. Lediglich auf einen Stock gestützt, grinste er vor seiner Haustüre koboldhaft in die Fernsehkameras, als wollte er sagen, schaut her, sie sind mir alle auf den Leim gegangen.

„Wo bitte ist der kranke Mann, der sich in London immer nur im Rollstuhl bewegt hat?“, fragte zornig die Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Gladys Marin. Die Menschenrechtsgruppen, die über 500 Tage lang dafür gekämpft hatten, dass Pinochet in Europa vor Gericht gestellt wird, fühlten sich vom britischen Innenminister Jack Straw und Pinochet getäuscht. Viviana Diaz, Präsidentin der Angehörigengruppe, sagte: „Die ganze Zeit hat man versucht, uns weiß zu machen, Pinochet sei krank. Und dann kommt er zurück und kann ganz normal laufen.“

Auch der Generalsekretär für die Präsidentschaft, José Miguel Insulza, erzürnte sich, als er sah, wie Pinochet ohne Rollstuhl unterwegs war. Ohnehin war der Regierung der Empfang der Militärs für Pinochet peinlich und unangenehm. „Diese Art der Zeremonien, die in Europa Erinnerungen wach werden lassen an den Einmarsch der Nazi-Truppen während des Zweiten Weltkrieges, als Erika und Lili Marleen gespielt wurden, sind sehr schädlich für das Bild Chiles in der Welt. Auch wenn das manchen Leuten hier im Land normal vorkommt, erinnert dies doch an Zeiten, die schon lange vergangen sind“, sagte Insulza.

Die Besorgnis auf Regierungsseite richtete sich vor allem darauf, was im Ausland gedacht wird. Auch der künftige Präsident Ricardo Lagos schämte sich für das, was er im Fernsehen sah. „Ich bedaure das sehr, solche Bilder helfen Chile nicht“, sagte Lagos. Der künftige Präsident würde den Militärs gerne Nachhilfestunden in Sachen Demokratie geben.

Doch das interessiert die chilenische Militärführung wenig. Die selbstzufriedenen Streitkräfte in Chile bleiben ein unantastbarer Staat im Staat. Wie viel Hochachtung für Pinochet sie der zivilen Gesellschaft noch immer diktieren können, zeigt derzeit die chilenische Presse. Als Pseudonym für Pinochet werden immer nur zwei Ausdrücke gebraucht: „der General im Ruhestand“ oder „der Senator auf Lebenszeit“. Niemand betitelt Pinochet mit dem was er ist: „der ehemalige Diktator“.

Aber der Ton, den einzelne Minister in der Regierung anschlagen, wird rauher. Außenminister Juan Gabriel Valdes sagte, Pinochet müsste sich definitiv auf ein Gerichtsverfahren einstellen – davor würde ihn lediglich schützen, für verrückt erklärt zu werden. Und Innenminister Raúl Troncoso forderte: „Pinochet muss sich aus jeder Art politischer Aktivität zurückziehen.“ Die Antwort des Sohnes von Pinochet folgte prompt: Das sei einzig und allein Sache seines Vaters.

Als ersten Schritt für ein Verfahren gegen Pinochet haben mehrere Juristen als Antwort auf seine Freilassung in London beim Obersten Gerichtshof beantragt, er möge die Immunität aufheben, die Pinochet als Senator auf Lebenszeit genießt. Lange haben sie an ihrem Antrag gefeilt und gearbeitet und sind davon überzeugt, dass er durchkommt.

Dieser Antrag ist zugleich der Prüfstein für die chilenische Justiz. Wird er abgelehnt, wird es niemals ein Verfahren gegen Pinochet eingeleitet werden. Mittlerweile liegen dem Sonderstaatsanwalt Juan Guzman 61 Anzeigen gegen Pinochet vor. Noch hat Guzman nicht entschieden, wie viele dieser Anzeigen juristisch stichhaltig sind. Wenn er aber ein Verfahren gegen Pinochet einleiten will, müsste auch Guzman die Aufhebung der Immunität beantragen. Zunächst hat Guzman am Freitag ein rechtsmedizisches Gutachten über den Gesundheitszustand Pinochets angeordnet.

Wütend waren am Wochenende etliche tausend Menschen, die in Santiago gegen Pinochet demonstrierten. Einige warfen Steine auf Armeegebäude und sprühten Slogans für die Verhaftung Pinochets. Wie meist bei Demonstrationen gegen das Militär, kam es auch am Samstag zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Demonstranten warfen Steine, die Polizei ging mit Knüppeln gegen sie vor – während Pinochet, bestens ausgeruht in seinem Wohnsitz, zahlreiche Besucher empfing.

Wird Pinochet am kommenden Freitag auf seinem Platz auf der Senatorenbank sitzen, wenn mit Ricardo Lagos der erste sozialistische Präsident seit Salvador Allende im Amt vereidigt wird? Die Provokation, das ist sicher, ist ihm zuzutrauen. INGO MALCHER