Sehnsucht nach Ruhe

Wer rastlose Beine hat, ist nicht nur ratlos, sondern verzweifelt. Unermüdlich sind die Beinein Bewegung. Freunde und Bekannte nehmen Restless-Legs-Kranke häufig nicht ernst

von ANNETTE WAGNER

Krankhaft Rastlose, das sind nicht etwa Leute, die vergnügungssüchtig von einer Party zur nächsten rennen. Oder solche, die als Touristen durch alle Länder dieser Erde hasten. Ganz im Gegenteil: Wer krankhaft unruhige Beine – Restless Legs – hat, der sehnt nichts mehr herbei als Ruhe. Doch sobald er seine Beine entspannt, fängt es an, das unerklärliche und unerträgliche Kribbeln, Drücken, Ziehen, Brennen. Und dann muss er sich bewegen, ob er will oder nicht. Die Missempfindungen in den Beinen treten tagsüber am Schreibtisch auf, abends vor dem Fernseher und nachts im Bett. Unruhige Tage, schlaflose Nächte, totale Erschöpfung sind die Folge von Restless Legs, kurz RLS.

Viele Betroffene wissen nicht einmal, dass es eine ernst zu nehmende Krankheit ist. Denn häufig werden sie von Partnern oder Freunden nicht ernst genommen, wenn sie sagen: Meine Beine kribbeln so unerträglich. „Es ist ein Gefühl, als wenn ein Strom durchfließt“, sagt die Reutlinger Hebamme Marianne Ickert. „Ich muss mich dann einfach bewegen, und wenn ich das nicht tue, ist es wie Folter.“

Der Tübinger Archäologe Dietrich Koppenhöfer, der seit 40 Jahren an RLS leidet, empfindet „ein unangenehmes Gefühl in den Kniekehlen, wie eine Spannung oder ein Druck“. Und der Reutlinger Versicherungskaufmann Max Diener stöhnt: „Es ist ein äußerst widerliches Gefühl, das sich schwer beschreiben lässt.“ Zur Linderung wandert Diener nachts in der Wohnstube auf und ab, macht „alle möglichen Verrenkungen und Turnübungen. Koppenhöfer macht nächtliche Stretchingübungen. Und Marianne Ickert versucht zunächst im Bett liegend die Beine zu bewegen und durchzustrecken. Wenn das nichts hilft, dann muss auch sie aufstehen. Diener leitet die baden-württembergische Selbsthilfegruppe für RLS-Patienten, der momentan 160 Betroffene angehören. Alle paar Monate trifft Diener sich mit neu hinzugekommenen Leidensgenossen zu einer Informationsrunde. Er weiß von verzweifelten Fällen zu berichten: „Eine Frau wollte sich vom Stuttgarter Fernsehturm stürzen, weil sie keinen Ausweg mehr wusste. Andere leiden extrem darunter, dass sie falsch behandelt werden. Die Ärzte schicken sie beispielsweise weg und sagen: Gehen Sie zum Orthopäden, der soll Ihnen Einlagen verschreiben.

Rastlose Beine sind nur beim Neurologen in den richtigen Händen. Und selbst der erkennt das Krankheitsbild RLS nicht immer. RLS ist eine weitgehend unbekannte Nervenkrankheit, deren Ursachen bisher ungeklärt sind. Organisch ist bei den Patienten alles in Ordnung. Der Böblinger Neurologe Erich Scholz, der schon viele RLS-Patienten betreut hat, sagt: „Man vermutet Nervenfunktionsstörungen im Bereich unseres zentralen Nervensystems. Frühere Vermutungen gingen eher dorthin, dass im Hirnstammbereich Störungen vorliegen. Neuere Untersuchungen deuten eher darauf hin, dass Funktionsstörungen im Rückenmarksbereich vorliegen.“

Rastlose Beine treten auch als Begleiterscheinung bei anderen Grunderkrankungen auf: bei Diabetikern, bei Nierenkranken, vor allem bei Dialysepatienten. Und auch schwangere Frauen leiden manchmal vorübergehend darunter. Die Ursachen von purem RLS jedoch sind bislang unbekannt. Die Diagnose erfolgt über die Feststellung der klassischen Symptome: die Missempfindungen in den Beinen; starke Bewegungsunruhe tags und nachts; manchmal nächtliche Beinzuckungen. Sind Letztere nur schwach, verhindern sie, dass der Patient in den Tiefschlaf fällt. Sind sie heftiger, führen sie zwangsläufig zum Erwachen. Absolute Klarheit über die Beinzuckungen – und damit auch über die hundertprozentige Diagnose RLS – kann nur eine Nacht im Schlaflabor bringen. Hier werden unter anderem Muskelaktivitäten an den Beinnerven gemessen. Koppenhöfer hat diese Untersuchung, von Kopf bis Fuß verkabelt, in einer Tübinger Klinik machen lassen. Am nächsten Morgen konnte er den nächtlichen Ausschlag seiner Beine schwarz auf weiß betrachten.

Jeder von rastlosen Beinen Betroffene hat über die Jahre so seine Hausmittel und Tricks entwickelt, die etwas Linderung verschaffen können. Doch Salben, Massagen, Fußbäder, ja auch Bewegung hilft nur kurzfristig. Viel Sport zu treiben führt, so berichten manche RLS-Kranke, sogar eher zu einer Verschlimmerung der Erscheinungen. Tatsächlich helfen können nur Medikamente. Durch Zufall fand man heraus, dass Parkison-Medikamente die RLS-Symptome unterdrücken können. Sie enthalten den Wirkstoff L-Dopa, wirken auf den Dopamin-Haushalt der Körpers ein. Doch nicht jeder will sein Leben lang Pillen schlucken, und nicht jeder verträgt sie gut. Mancher muss mit einem zusätzlichen Medikament gegen die auftretende Übelkeit ankämpfen. Zudem tritt rasch ein Gewöhnungseffekt an die Parkinson-Präparate ein. Bald schon muss man die Dosis höher schrauben.

RLS kann das Leben verändern. Die Hebamme Marianne Ickert hat umgeschult. Sie stand die langen Tage und Nächte im Kreißsaal nicht mehr durch, ist heute in der häuslichen Pflege tätig. Sie erzählt: „Durch meine Freiberuflichkeit kann ich mein Leben jetzt besser nach dem einrichten, was meine Beine von mir fordern.“ Koppenhöfer und seine Frau mussten ihre Betten auseinander rücken. Denn immer wenn er im Schlaf zuckte, zuckte sie mit und wachte auf. Auch Diener berichtet, dass RLS die Lebensqualität entscheidend einschränkt: „Ohne die richtigen Medikamente zu nehmen, können sie kaum noch im Flugzeug sitzen oder in eine Oper oder eine Operette gehen. Sie können auch nicht mehr Zeitung lesen oder Fernsehn gucken. Sie können einfach nicht mehr sitzen.“