Der Wahrheitsterror

Auch zehn Jahre nach der Volkskammerwahl fehlt eine philosophische Reflexion der DDR-Geschichte. Die Verführbarkeit durch den dogmatischen Wahrheitsanspruch wird nicht ausreichend thematisiert

von THOMAS SCHÄFER

„Wir brauchen ein neues Verhältnis zur Wahrheit!“ (Gregor Gysi, 4. 11. 1999, Berlin, Alexanderplatz)

Die heute vor zehn Jahren abgehaltene Volkskammerwahl verabschiedete definitiv jeden Ansatz eines erneuerten sozialistischen Projekts in Deutschland. So zügig man den folgenden Vereinigungsprozess vorantrieb, so umfassend machte man sich an die so genannte Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit: Ob Mauerschüsse, Stasi-Mitarbeit oder auch individuelle Biografien – kaum ein Thema, das nicht in ausgiebigen öffentlichen Diskussionen, wissenschaftlichen Forschungen oder juristischen Prozessen zur Verhandlung stand. Deutsche Gründlichkeit, könnte man meinen, und es stellt sich die Frage, ob uns die „erloschenen Vulkane des Marxismus“ (N. Luhmann) in dem neuen und, wie viele hoffen, „posttotalitären“ Jahrhundert überhaupt noch interessieren müssen. Die Frage ist meiner Ansicht nach zu bejahen: Die Bearbeitung der realsozialistischen Vergangenheit bleibt nämlich – trotz aller moralischen, juristischen und wissenschaftlichen Strenge – bis dato unbefriedigend. Es fehlt so etwas wie eine philosophische Reflexion. Sie wäre jedoch nötig, um eine erneute Hinwendung zum Totalitarismus zu verhindern.

Andere Erfahrungenund Diskurse wurden prinzipiell disqualifiziert

In der philosophischen Debatte hat sich inzwischen die Einsicht breit gemacht, dass die soziale und politische Problematik der sozialistischen Regime auf einen Kern zurückführbar ist, der in der (marxistischen) Theorie selbst liegt: in deren spezifischem Wahrheitsbewusstsein. Gemeint ist die eigentümliche (aber auch außerhalb des marxistischen Kosmos verbreitete) Wahrheitsgewissheit, die sich daraus ergab, dass man sich zu bestimmten Einsichten privilegiert wähnte. Dieser heute vor allem in seinen autoritären Konsequenzen zurückgewiesene, wenn auch beileibe nicht verschwundene „Wahrheitsmythos“ (Foucault) war in kognitiver Hinsicht das Resultat einer kurzschlüssigen Umdeutung der eigenen subjektiven Gewissheiten in vermeintlich „objektive Wahrheiten“. Daraus aber folgte notwendiger- wie fatalerweise die allgegenwärtige Strategie, andere Denkweisen und Diskurse, aber auch andere Erfahrungen und Erkenntnisse prinzipiell zu disqualifizieren – als „bürgerlich“ oder „gegen den Fortschritt gerichtet“. Genau auf diese, vorsichtig gesprochen, unkritische Haltung gegenüber den eigenen Überzeugungen kann man wohl die meisten der heute vermeintlich „aufgearbeiteten“ Phänomene der staatssozialistischen Wirklichkeit zurückführen – ob Ausreiseverbote, Stasi-Mitarbeit oder die Kontrolle von Lebensführung und Wahlverhalten der BürgerInnen.

Dass es sich dabei nicht bloß um eine stalinistische Erfindung handelt, zeigt der Blick in die Schriften des alten wie auch des jungen, humanistischen Marx. Da ist die Rede von einer „wirklichen Wissenschaft“, die sich gegen die bürgerlichen „Ideologien“ durchzusetzen habe, und von der Aufgabe der Philosophie, „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“.

Die platt erscheinenden Phrasen „Die Partei hat immer Recht“ oder „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist!“ (Lenin) stellen sich insofern nicht als vulgärmarxistische Verirrungen in den Köpfen von Arbeiter- und Bauernführern dar. Vielmehr konnten diese sich bei ihrer staatlichen Machtausübung neben vielen anderen Vordenkern sogar auf den „Klassiker“ des kommunistischen Denkens, Karl Marx, berufen und hatten damit eine „wissenschaftliche“ Legitimation für die eigene autoritäre politische Praxis. Nicht die Umsetzung der Theorie in die Praxis stellt also das zentrale Problem des Staatssozialismus dar, sondern die Theorie selbst bzw. der mit ihr verbundene Wahrheitsdiskurs. Ein Wahrheitsverständnis, das übrigens bereits bei Platon angelegt ist.

Wie man im Sinne Wittgensteins sagen könnte, war man in einem Bild gefangen: dem elitären Bild eigener Privilegiertheit, das dazu führte, die aufklärerisch-egalitäre Idee freier Bürger fallen zu lassen zugunsten einer vormodernen, paternalistischen und traditionalistischen politischen Kultur.

Es lag unter diesen Voraussetzungen nahe, sich nicht nur in einer Wahrheitsgewissheit zu wiegen, sondern sich darüber hinaus moralisch verpflichtet zu fühlen, der eigenen „wahren Erkenntnis“ – und sei es gewaltsam – zur Verwirklichung zu verhelfen. Und damit war eine Vorstellung von Gesellschaft möglich, in der die mehr oder weniger zwanghafte Integration ihrer Mitglieder zu einer sozialpolitischen Pflicht erhoben werden konnte – streng nach dem Motto: „Die Wahrheit verlangt eben Opfer!“ Insofern hat der Dresdner Philosoph Lothar Fritze kürzlich ganz zu Recht von den staatssozialistischen Akteuren als „Tätern mit gutem Gewissen“ gesprochen und damit das tragische Scheitern einer Bewegung benannt, die sich doch die menschliche Befreiung auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Auch jetzt noch herrschtdie Praxis der Disqualifizierung Andersdenkender

Gerade nach diesen Erfahrungen gilt es heute mehr denn je, die Idee einer demokratischen Kultur zu verteidigen, in der als „Wahrheit“ nicht mehr angesehen wird, wovon einige Gewissheit zu haben behaupten, sondern was Resultat intersubjektiver Verständigung ist (Habermas). Dass diese Idee in vielen Hinsichten auch von den politischen und sozialen Realitäten unserer heutigen Demokratien entfernt ist, dürfte unbestritten sein. Dies umso mehr, als die Wahrheitsgewissheit und entsprechende autoritäre Denkmuster als eine Verführung angesehen werden müssen, in deren Bann zu geraten eine ständige, schlummernde menschliche Tendenz – auch unter demokratischen Bedingungen – darstellt. Darüber belehrt einen zum Beispiel der Blick auf die gegenwärtigen intellektuellen und vor allem innerakademischen Debatten. Dort ist die Rhetorik wie auch Praxis der Disqualifizierung anderer rationaler Standards, Schulen oder Methoden an der Tagesordnung – in einer auffälligen Spannung zu den demonstrativ hervorgekehrten liberalen und demokratischen Überzeugungen.

Hat die DDR-Bevölkerung mit der Wahl vom 18. 3. 1990 also einen historischen Lernprozess dokumentiert? Sicherlich im Sinne eines „Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) und seiner politischen Institutionalisierung. Wenn aber die Crux des Realsozialismus in seinem „Wahrheitsterror“ bestand, dann folgt darüber hinaus für die lebensweltliche Ebene: Nachhaltiges Lernen aus der Geschichte des Realsozialismus müsste darin bestehen, ein geschärftes Gespür für jenes offensichtlich nur allzu menschliche Phänomen der Wahrheitsgewissheit zu entwickeln. Denn es ist, wie man an der Geschichte der sozialistischen Bewegung ablesen kann, gerade auch da zu vermuten, wo guter Wille oder Vernunft allein zu herrschen scheinen. Was die DDR-Vergangenheit betrifft, so ginge es zudem auch um die Bereitschaft, sich verstehend auf derartige Prozesse kognitiver und psychischer Orientierung bzw. Verführung und die damit verknüpften menschlichen Lebensschicksale einzulassen.