Der Zettelkasten des Grauens

Bad Arolsen ist ein Orakel, das spricht. Oder schweigt. Und langsam denkt. Vor allem das. Denn Bad Arolsen ist ein Orakel mit schlechtem Betriebsklima

von THOMAS GERLACH

Der Staatsakt beginnt um halb neun, und das täglich: Ein Mitarbeiter des Internationalen Suchdienstes ITS zieht am Haupteingang die weiße Fahne mit dem roten Kreuz am Mast auf. Kein Appell, keine Ansprache, das nicht. Doch auch dieser Tag gehört dem Suchdienst und seinem Direktor Charles-Claude Biedermann. Absätze klacken in den Fluren, Computer beginnen zu surren, Drucker zu drucken, Briefe werden aufgerissen, Karteikarten gesucht, Akten getragen. Emsigkeit und Schweigen kehren ein in die Große Allee im hessischen Bad Arolsen.

„Die ZNK ist das Herzstück des Suchdienstes.“ Alles schweigt, nur einer spricht: Udo Jost, Koordinator für Ordnungsarbeiten, steht vor Karteischränken, wippt auf Fußspitzen und gewährt Einblick in die Zentrale Namenkartei ZNK und das alphabetisch-phonetische System. Ein vergilbtes Reich aus Papier, 47 Millionen Einträge über 17 Millionen Menschen. „Grundsätzlich gilt: Doppelbuchstaben gelten als Einzelbuchstaben! LL gleich L, AA gleich A, NN gleich N! Z ist gleich S, ausgenommen, wenn es wie C ausgesprochen wird. Zucker ist gleich Cuker...“, schnarrt Udo Jost und taucht begeistert im Wortschwall ein. Weg ist er.

47 Millionen Vermerke

Dieses System hilft, Angaben über Personen zu finden, auch wenn sie in unterschiedlichen Schreibweisen irgendwo in den 27 Kilometer Akten vermerkt sind. Hier in den Karteischränken der ZNK wollen alle notiert sein, die Briefe mit ihren Lebensgeschichten nach Bad Arolsen schicken, aus Rowno in der Ukraine, dem polnischen Bydgoszcz oder dem weißrussischen Minsk, Männer und Frauen, um die 70 und älter, ehemalige Zwangsarbeiter, die einen Beweis vorbringen müssen für ein Stück Leben, das sie lieber nicht gelebt hätten, das sie vergessen wollten, vielleicht vergessen haben, und das sie jetzt im Alter eingeholt hat, als Gerücht auf der Straße, als Nachricht aus dem Fernsehen, als Wort aus dem Westen mit diesem deutschen Klang: Entschädigung. Wenn ihre Namen hier in Bad Arolsen irgendwo in den Karteikästen stecken und gefunden werden, steigt die Hoffnung auf den Bescheid. Und wenn Vermerke auf den Kärtchen zu den Originaldokumenten führen und die Haft- oder Zwangsarbeitszeit nachgewiesen wird, verlässt ein Brief das Haus. Auch wenn nichts oder nur Zweifelhaftes gefunden wird, geht eine Nachricht hinaus.

„Nehmen Sie mal den ganz einfachen Namen Schwarz! Allein davon gibt es 156 Schreibweisen! Das reicht von Svarc bis Zwarsch!“ Udo Jost ist wieder aufgetaucht. Geräuschvoll atmet er durch die Nase aus. Mit einer Lautstärke, als ob er eine Busgesellschaft beschallen müsse, dröhnen die Wörter. Udo Jost liebt und lobt die ZNK, das System mit seinen 17 Millionen Einwohnern, den lebenden und den toten, und den 47 Millionen Schreibweisen. Der Zettelkasten des Grauens, das papierne Hirn mit amtlicher Erinnerung, das Bescheinigungen ausstößt, wenn es angerufen wird. Ein Orakel, das spricht. Oder schweigt. Und langsam denkt. Vor allem das.

Welche Qualifikationen die Suchdienstler haben? „Von mir aus könnten’s Henker sein!“ Krachend lacht Udo Jost, eine Frau zieht den Kopf ein. Ein Spaß, ein Männerspaß. Gewiss. Vielleicht eine Provokation. Der Suchdienst ist ins Gerede gekommen. Da kann es nicht schaden, selbstbewusst zu sein. Oder doch besser korrekt? „Also für mich ist wichtig, dass die Mitarbeiter verlässlich sind und keine Fehler machen“, sagt Udo Jost.

Das Hirn hat einen Stau. Papierstöße stapeln sich in der Antragsverkartung, in der Lokalisation, liegen auf Regalen. Bündel mit aufgemalten Verfallsdaten „6/96“ „11/97“ „5/95“. Kompostierte Blätter, hunderttausendfach, Futter für das Superhirn, das es nicht schafft, noch nicht. Aber irgendwann, „mandatsgemäß“.

In den nächsten Tagen bekommt Anna P. aus Polen ihren Bescheid. Die Zwangsarbeiterin, die bei einem deutschen Bauern schuftete, wird es noch erleben, hoffentlich. Im Juli wird sie 102. Mit dem Nachweis kann sie ihre Rentenansprüche verbessern, Geld aus dem deutsch-polnischen Opferfonds beantragen. Mit dem Nachweis würde sie auch Geld aus dem Entschädigungsfonds bekommen. Wenn das Gesetz verabschiedet ist. Anna P. ist privilegiert. Wer Ende 70 ist oder älter, landet in einem kleineren Stau.

Als die Mauer noch stand, hat sich kaum jemand für den Suchdienst interessiert. Briefe gingen ein, Bescheide hinaus, dazwischen lagen Monate. Die Post ging ab nach Westen, der Osten war dicht. Rund 50.000 waren es pro Jahr in den 80er-Jahren, über 250.000 im letzten Jahr. Seit dem Fall der Mauer kommen aus Osteuropa die Anfragen, die der Suchdienst für den Westen in den Jahrzehnten zuvor abgearbeitet hat. Um den Stau zu bewältigen, hat der Suchdienst ein beschleunigtes Bearbeitungsverfahren eingeführt. Bei der Kurzantwort erfolgt nur die Mitteilung, ob der Betreffende in der Zentralen Namenkartei geführt ist. Bearbeitungszeit: sechs Monate. Siemens akzeptiert das für seinen Zwangsarbeiterfonds, andere Stiftungen nicht. Also ein neuer Antrag im alten Stau.

Der Stau ist das offizielle Problem

Der Stau ist das offizielle Problem des Suchdienstes, die Stimmung in der Belegschaft das inoffizielle. „Warum wir keine Frauenbeauftragte haben?“ Charles-Claude Biedermann scheint amüsiert. „Nein, Herr Jost, lassen Sie die Frau reden! Bitte, Frau Raabe, antworten Sie!“ Mit ausladenden Armen präsentiert der Direktor des ITS seiner Stellvertreterin das Wort, wie ein Oberkellner das Dessert reicht. Und Frau Raabe nimmt es an, ist amüsiert und fragt, ob man denn bei 80 Prozent Frauen noch eine Frauenbeauftragte brauche? „Eigentlich brauchten wir schon einen Männerbeauftragten!“

Mit seiner eigenen Herzlichkeit hat sich Udo Jost nun doch eingemischt. „Und was das Mobbing angeht, da musste ich mich erst mal kundig machen, was das überhaupt ist!“ Mobbing ist ein böses Wort, es kursiert nun auch beim ITS. Erst kürzlich war Biedermann von einer ehemaligen Mitarbeiterin wegen sexueller Belästigung angeklagt worden. Die Verhandlung endete mit Freispruch.

„Oh ja, leider haben wir viele anonyme Briefe!“, klagt Charles-Claude Biedermann. Er verfügt über die seltene Gabe, das Gefühl zu vermitteln, als ob er gleichzeitig vor und hinter einem steht. Das schafft Geborgenheit. Oder Bedrohung. Der Schweizer aus Solothurn ist seit über 14 Jahren der Gesandte des Internationalen Roten Kreuzes aus Genf und Herr über Papier und Menschen im Suchdienst. Der elastische Mann sitzt im Konferenzzimmer, federt auf seinem Stuhl vor und zurück, der Oberlippenbart glänzt silbern. „Wir haben einen Betriebsrat, an den können sich doch alle wenden!?“ Leise, hastig redet der 48-Jährige, blickt untröstlich, fast gekränkt, die Augenbrauen schieben Falten zusammen.

Gemeinsam mit der DGB-Vorsitzenden im nahen Korbach beklagt eine Reihe von Mitarbeitern die schleppende Bearbeitung der Anträge und die mangelnde Qualifizierung der Vorgesetzten. Weder Jost, Raabe noch Biedermann sind Historiker oder Archivare. Einer der Abteilungsleiter arbeitete früher als Reifenaufzieher. Biedermann entgegnet, ein Suchdienst sei kein Archiv und das alpabetisch-phonetische System müssten auch Historiker erst erlernen, so wie Reifenaufzieher oder Friseurinnen.

Im Herbst befragte der Betriebsrat die Belegschaft zu Arbeit und Motivation. Bei der Auswertung fehlte dann eine Zettelbox, von den verbliebenen 200 Fragebögen schätzten über 120 das Betriebsklima als schlecht ein. Viele der 400 Mitarbeiter kritisieren nur anonym, aus Angst um ihre Stelle. Ein Drittel arbeiten unter Zeitarbeitsverträgen, die alle zwei Jahre verlängert werden. Oder auch nicht.

Der frühere Landrat und Bad Arolser Bürgermeister schrieb an das Innenministerium, beklagte die Zustände beim ITS, der DGB im Landkreis fordert die Ablösung von Biedermann. Und auch Kulturstaatssekretär Michael Naumann hat für Unruhe gesorgt, als er laut darüber nachdachte, dereinst einen Teil der Akten in das Dokumentationszentrum beim Holocaust-Mahnmal zu verlegen. Alles Humbug. Solange zehn Staaten über kleinste Änderungen beim ITS zu entscheiden haben, ändert sich nichts. Das wissen die Beschäftigten, das weiß auch Biedermann. Sein Sessel ist so sicher wie kaum ein zweiter in Deutschland.

Prüfer vom Innenministerium

Die Kunde von der Unruhe in Bad Arolsen hat das Innenministerium erreicht. Es hat nun Prüfer vom Bundesverwaltungsamt (BVA) aus Köln nach Bad Arolsen geschickt, um „festzustellen, ob es in der Aufbau- und Ablauforganisation des ITS Möglichkeiten der Optimierung (Verbesserung) gibt“.

Vom Betriebsklima beim ITS weiß Anna P. in Polen nichts. Niemand, der von irgendwoher einen Antrag nach Bad Arolsen schickt, ob er Schwarz, Svarc oder Zwarsch heißt, kennt Charles-Claude Biedermann oder Udo Jost. Doch die Spannungen wirken bis nach Russland.

Wieder kursieren Fragebögen, diesmal vom BVA. Der Betriebsrat hat darauf hingewiesen, dass sie anonym ausgefüllt werden können. Einer hat den Herren schon geschrieben: „Dank unseres fachlich unqualifizierten Führungspersonals, das keinen Widerspruch duldet, gehen wir jeden Morgen mit völliger Hingabe zu unserem Arbeitsplatz.“ Natürlich führt auch dieser Brief keinen Absender.

Wäre der ITS ein Finanzamt, könnten die meisten mit solchen Bekenntnissen leben. Doch der Suchdienst verschickt keine Steuerbescheide. Sondern Bescheide der Gerechtigkeit. Für Anna P. kommt sie wohl noch rechtzeitig. Andere werden nicht 102.