Kritik an Krebsforschung

Tumorerkrankungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Zwar gab es bisher einige kleine Erfolge zu verzeichnen, doch ein Durchbruch im Kampf gegen den Krebs ist noch in weiter Ferne

von WOLFGANG LÖHR

Zum Auftakt gab es erst einmal herbe Kritik an der eigenen Zunft. Die deutschen Tumorzentren hätten sich selbst ins Abseits manövriert, sagte Professor Lothar Weißbach, der Präsident des diesjährigen Deutschen Krebskongresses. Rund 5.000 Ärzte und Wissenschaftler hatten sich diese Woche in Berlin eingefunden, um eine Bestandsaufnahme der Krebsforschung vorzulegen und neue Behandlungsmöglichkeiten zu diskutieren. Weißbachs Bilanz klingt nicht sehr positiv: „Vor 100 Jahren – im Gründungsjahr der deutschen Krebsgesellschaft – starben jährlich zirka 40.000 Menschen an Krebs. Heute sind es 200.000.“

Auch Weißbachs Prognose sieht nicht rosig aus. Spätestens in zehn Jahren werde Krebs die Todesursache Nummer eins sein, warnte der Urologe in einem Thesenpapier. Und „wir sind nicht vorbreitet“.

Jeder siebte Todesfall ist heute bereits auf Krebs zurückzuführen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind im letzten Jahr weltweit etwa 10 Millionen neue Krebsfälle aufgetreten, über 7,2 Millionen Menschen sind an Krebs gestorben. Allein in Deutschland erkranken jährlich über 330.000 Menschen an Krebs. Die Zahl der tödlich verlaufenden Erkrankungen liegt bei etwa 210.000 Menschen. Weltweit wird die Zahl der Krebsfälle nach einer Voraussage der WHO bis zum Jahr 2020 um rund 50 Prozent zunehmen und auf 15 Millionen ansteigen.

In Deutschland ist zwar seit Beginn der Neunzigerjahren erstmals in diesem Jahrhundert ein leichter Rückgang der Todesfälle durch Krebs eingetreten. Dies wird unter anderem auf die verbesserte Aufklärung der Bevölkerung, die routinemäßige Früherkennungsuntersuchungen und eine verbesserte Diagnose und Therapie zurückgeführt.

Die kleinen Fortschritte können jedoch nicht vertuschen, das in der deutschen Krebsforschung einiges im Argen liegt. So hätte die Onkologen es versäumt, monierte der Kongresspräsident Weißbach, „die 20 Jahre alten Früherkennungsprogramme der medizinischen Entwicklung anzupassen“. Die Früherkennung sei teuer und erfülle nicht ihre Aufgabe. Sie müsse „intelligenter“ gestaltet werden.

Nach wie vor ist die Tumorbehandlung im Wesentlichen auf den drei klassischen Säulen aufgebaut: die Tumorentfernung durch chirurgische Eingriffe, die Strahlentherapie und die medikamentösen Behandlung. Neu hinzu gekommen sind immuntherapeutische Ansätze, die gerade in den letzten Wochen hoffnungsvolle Ergebnisse vorweisen konnte. Aber von einem Durchbruch kann auch hier noch nicht gesprochen werden. Diese Therapien stecken noch in der experimentellen Phase.

Erfolglos geblieben ist hingegen der einstige Hoffnungsträger der Krebsforscher, die somatische Gentherapie, bei der durch zusätzlich eingeschleußte Gene in den Körper des Patienten das Immunsystem aktiviert werden soll. Rund 2.000 Krebspatienten sind inzwischen einem gentherapeutischen Versuch unterzogen worden – ohne durchschlagenden Erfolg. „Gentherapie ist bisher nur eine vage Hoffnung für die Patienten“, musste Weißbach bekennen.

Ein Rezept gegen Krebs wird es vermutlich auch nicht geben können. Denn immerhin sind etwa 150 verschiedene Tumortypen bekannt, und jeder von ihnen verlangt seine eigene Therapiestrategie.

Bemängelt wurde auch die Unflexibilität der behandelnden Onkologen. „Deutsche Ärzte und Patienten beteiligen sich nicht ausreichend an innovativen Tumorbehandlungen“, kritisiert Weißbach. Nur etwa 5 Prozent der Patienten würden in klinischen Prüfungen kontrolliert behandelt. Die Mehrzahl der Ärzte scheuten den Aufwand den gesetzlichen Regelungen zu entsprechen.

Auffallend unterrepräsentiert sind deutsche Patienten auch in internationalen Krebsstudien. Nur 6 bis 7 Prozent der an den Studien beteiligten Patienten kommen aus Deutschland, sagte Karl-Heinz Kurth, Professor für Urologie an der Amsterdamer Universität und Repräsentant der Europäischen Organisation zur Erforschung und Behandlung von Krebserkrankungen (EORTC). Zu den Aufgaben dieser Organisation gehört unter anderem die Durchführung von großen internationalen Krebsstudien mit bis 3.000 Patienten. Von den derzeit rund 6.600 Patienten in den 1999 durchgeführten EORTC-Studien stammten lediglich 7,2 Prozent aus Deutschland, sagte Kurth: „Das entspricht etwa dem Anteil, der aus der Schweiz oder Polen kommt.“ Deutschland bleibe damit weit hinter Ländern wie Belgien oder den Niederlanden zurück. Der Grund liege zum einen in der mangelnden Bereitschaft der behandelnden Ärzte sich an einer Forschungsstudie zu beteiligen. Häufig verhindere aber auch die unzureichende Ausstattung und ungenügende Fachkompetenz der Kliniken eine Beteiligung. „Die meisten Tumorzentren in Deutschland würden den Anforderungen der EORTC auch nicht genügen“, stellte Kurth kritisch fest. So seien lediglich zwei deutsche Kliniken, das Klinikum Großhadern in München und die Robert-Rössle-Klinik in Berlin-Buch vor der EORTC anerkannt. In Frankreich hingegen sind es 9, in Belgien 6 und in den Niederlanden gar 12 Kliniken.