Die Erinnerung siegt

Der mit dem komischen Namen und dem großen Renommee: Der „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ wurde jüngst zum 49. Mal vergeben

von GABY HARTEL

Wie schön, wenn einem jemand anders die Zweifel von der Seele redet: „Hier ist es schwer, Kulturprogramm zu machen“, sagt Hildegard Bussmann, Wellenchefin von S2-Kultur, zur Begrüßung. Als hinderlich gilt ihr die fast abgeklärte Schönheit Baden-Badens. Und tatsächlich sitzt die 19-köpfige Jury in diesem Jahr besonders idyllisch zusammen, um über 14 Einreichungen aus 10 Hörspielredaktionen abzustimmen. Doch drang mit den ersten Hörspielen sehr schnell das raue Leben in den großen Sitzungssaal des SWR. Als hätten sich die Redaktionen wegen des Hörbuchbooms auf ihre ureigenen Qualitäten besonnen, war in diesem Jahr vergleichsweise selten „abgelesenes Papier“ zu hören. Denn wenn die Öffentlich-Rechtlichen schon mit mehr Zeit, Geld und technischem Equipment ausgestattet sind als so ein kleiner Hörverlag, dann sollte auch gespielt, experimentiert, mit Sprache und Ton komponiert werden. Um so das sinnlich überzeugende Ganze hervorzubringen, dem der „Hörspielpreis der Kriegsblinden“, dieser renommierteste Preis der Hörspielszene mit dem merkwürdig altertümelnden (aber auch auffälligen) Namen, zusteht.

Das Hörmarathon begann dynamisch: mit Christoph Schlingensiefs „Lager ohne Grenzen“ (WDR) und Raymond Federmans „Take it or leave it“ (BR), die beide bis zum Schluss im Rennen blieben. In seiner bewährt durchgeknallten Art verzerrt Schlingensief das hilflos-aktivistische Helfersyndrom westlicher Nationen zur Groteske. Die Zeit: der Krieg im Kosovo. Wir hören Benefizrummel, intellektuelles Geschwafel, betroffene Berichterstattung. Schlingensief ist dabei ambivalent wie immer: Eben Christoph – und wie er die Welt sieht. Seine akustische Verausgabung, die aggressiv-bitteren Angriffe auf ein dahindümpelndes Gutmenschentum, mediales Dabeisein-Wollen und kollektive Mitleidshysterie überzeugen immer noch. Leider verwuselt sich Schlingensief gegen Ende im Überschwang der dargestellten Medien-, Spende- und Kriegsgeilheit. Und sein 1998 beim Gros der Juroren durchgefallener „Rocky Dutschke ’68“ war wohl einfach das bessere Stück.

Die Bearbeitung von Raymond Federmans autobiografischem Roman „Take it or leave it“ hingegen ist etwas leiser satirisch, doch mit erschütterndem Kern: Ein lebensfroh-tragischer Emigrant aus Frankreich gerät während des Koreakriegs zu den Fallschirmspringern der US-Armee und will seine letzten Urlaubswochen vor dem Ausrücken genießen. Dabei geschehen dämliche Missgeschicke, doch immer wieder erschafft sich der Pechvogel in mehrstimmig quasselnder Fröhlichkeit neu aus dem radiophonen Nichts. Mit Jazzfragmenten versetzt verschachtelt dieses „chaotische Roadmovie“ Geschichten – scharfe, komische, ergreifende. Und wir verwickeln uns in ein faszinierendes Stimmenspiel.

Dass es dabei nicht harmlos zugeht, dafür sorgen Ulrich Gerhardts Stimmregie und die präzis gesetzten Pausen. Wie atmosphärische Störungen wetterleuchten sie durch das Stück und werden bald thematisch untermauert: Der komische Antiheld, der hier in sprachlicher Deftigkeit ein Land durch seine Frauen und die Musik zu erobern versucht, ist eine displaced person: Seine Familie wurde in Auschwitz ermordet. Eine unverkrampfte Radioproduktion, der die übliche Preisverleihung im Plenarsaal des Bundesrates wirklich zugestanden hätte. Doch sie verlor mit 9 zu 10 Stimmen gegen den Sieger.

Der Sieger: ein sprödes, durchaus respektables, 16-stündiges Mammutprojekt mit dem poetisierenden Titel „Unter dem Gras darüber – Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland“ (HR). Mehr als hundert Augenzeugen raffen in zahlreichen Erzählvignetten das letzte Jahrhundert zusammen. Da berichten die ganz Alten erfrischend unzensiert vom Glück oder Elend des Dienstmädchendaseins. Und vom Pech, dass „meine Schwester dann wieder ein Mädchen wurde“. Die können noch erzählen!

Doch der anfängliche mosaikhafte Charme verflüchtigt sich mit den späteren analytisch geschulteren Stimmen in immergleicher Atmo. Was bleibt, ist der Eindruck einer linguistisch-sozialkundlich interessanten Materialsammlung. Ist auch das Megahörspiel auf „Authentizität“ hin angelegt, so erzielen die Stichworte des Autorenduos (Inge Kurtz, Jürgen Geers) doch einen eher typisierenden Effekt. Auffällig auch, dass Dreiviertel der Sendung die erste Jahrhunderthälfte behandelt und dass überwiegend „geschichtsverdächtige“ Erinnerungen zu Wort kommen. Eine merkwürdig didaktische Strenge macht sich breit.

Seit ein paar Jahren produziert der HR solche stundenlangen „Radiotage“ mit dem lobenswerten Ziel, alle Formatdiktate zu sprengen. Und Walter Kempowskis „Der Krieg geht zu Ende“ war 1995 auch zweifellos gelungen.

Doch heute wird man den Verdacht nicht los, hier sei ein rundfunkpolitischer – kein ästhetischer – Preis vergeben worden.

Die Autorin war Mitglied der Jury.