Das kleine Lhasa im Norden Indiens

McLeod-Ganj, der tibetische Stadtteil von Dharamsala, erfreut sich wachsender Beliebtheit. Für diesen Zulauf sorgen tibetische Freundlichkeit und Geschäftstüchtigkeit – vor allem aber ein lebender Buddha

Dharamsala, ein für indische Verhältnisse kleines Städtchen mit fast zwanzigtausend Einwohnern ist in den Sechzigerjahren bekannt geworden, als der 1959 aus Tibet geflohene Dalai Lama sich hier niederließ, ein großes Kloster baute. Durch die Gründung einer Exilregierung schuf er ein Zentrum für die Flüchtlinge aus dem chinesisch besetztenTibet, die ihm in großer Anzahl schon vorausgeeilt waren und noch folgten.

Heute leben hier fast zehntausend Exiltibeter, konzentriert auf den Ortsteil McLeod-Ganj, auf mehreren Bergrücken 1.800 m hoch gelegen, neun Kilometer vom Hauptort entfernt. 1905, nach einem Erdbeben, hatten die Engländer diese „Hillstation“ – benannt nach zwei Offizieren – aufgegeben, und erst die zuwandernden Exiltibeter belebten die Siedlung wieder. Mittlerweile hat sich dieser Teil von Dharamsala – in freier Übersetzung „Wanderers Aufenthalt“– zur beliebten Station von Pilgern, Travellern und indischen Touristen entwickelt. Viele der Hotels und Restaurants werden von tibetischen Familien betrieben, die auch Indern Arbeit geben. In den zahlreichen Werkstätten für tibetisches Handwerk, in den Schulen und sozialen Einrichtungen finden sie Beschäftigung. Natürlich sind sie auch als Händler neben ihren indischen Nachbarn aktiv, die aber meist erst später am Tag ihre winzigen Geschäfte öffnen.

Der besondere Reiz dieses kleinen Ortes mit Blick auf das vom ewigen Schnee bedeckten Dhaula-Dar-Massivs (6.000 m), liegt offensichtlich in der Anwesenheit eines lebenden Buddha, seiner Heiligkeit des 14. Dalai Lama, dessen Residenz am Osthang des Ortes unterhalb eines kleinen Tempels liegt. Dazwischen der bescheidene Audienzplatz, dessen Kapazität schnell erreicht wird, wenn der Dalai Lama hier eines seiner „teachings“ abhält.

Nur ein kleiner Zettel am Anschlagbrett in der Ortsmitte weist den Termin aus und jeder interessierte Traveller weiß, wann er rechtzeitig zur Sicherheitskontrolle mit dem Pass erscheinen muss, um noch einen Platz zu bekommen. Der Andrang ist groß, denn regelmäßig nehmen hunderte tibetischer Pilger teil, die aus allen Teilen der Welt hierher kommen. Für viele der Rucksacktouristen ist eine Audienz beim Dalai Lama ein Höhepunkt ihrer Reise durch Indien.

Das lange Warten wird auch belohnt, es findet sich für jeden ein Gedanke, der länger hängen bleibt aus den Worten des eloquenten, freundlichen, englisch sprechenden Heiligen. Die Stimmung ist entspannt, die Tibeter haben dem Ort eine moderne Prägung gegeben und sind Fremden gegenüber aufgeschlossen, auch ohne alsbald ein Geschäft mit ihnen abschließen zu wollen.

Als Hauptstadt der fast 150.000 Exiltibeter birgt der Ort die Verwaltung der Exilregierung, Schulen, höhere Lehranstalten mit Bibliotheken und das einzigartige Tipa, das tibetische Institute of Performing Arts, das in Forschung und Ausbildung alle Künste der alten Volksopertradition pflegt. Regelmäßig finden Aufführungen statt, oft gehen Ensembles mit alten LKWs auf wochenlange Tourneen durch die vielen tibetischen Siedlungen Indiens.

Die sozialen und kulturellen Aktivitäten der Tibeter werden von der indischen Bevölkerung Dharamsalas inzwischen akzeptiert, denn auch sie profitieren von dem Interesse der wachsenden Mittelschicht Indiens, die zu Feiertagen, wie dem Frühlingsfest Holi, mit Bussen und Kleinwagen heraufkommt und meist in indischen Hotels absteigt. Die Inder schätzen es, dass es in McLeod-Ganj sauberer ist als in anderen Ferienorten: Auch dies eine Initiative der meist staatenlosen Tibeter, die nur mit einer indischen Duldung ausgestattet ihre Zukunft gestalten, in der Hoffnung, eines Tages ihre alte Kultur und ihre neuen Errungenschaften einer demokratischen Verwaltung in einem freien Tibet zu pflegen. RENÉ ODENTHAL