„In Europa herrscht Leere“

Der schwedische Erfolgsschriftsteller Henning Mankell interessiert sich in seinen Krimis für Serienmörder als „lebende Zeitbomben“. Privat zieht er den kargen Alltag in Afrika vor

Interview MONIKA GOETSCH

taz: Was fasziniert Sie eigentlich so an Serienmördern?

Henning Mankell: Ich bin gar nicht so fasziniert davon. Aber ich finde es interessant, die Gesellschaft im Spiegel des Verbrechens zu betrachten.

Warum?

Das ist eine alte literarische Tradition. Schon Shakespeare hat so gearbeitet. Sein „Macbeth“ ist einer der besten Krimis der Weltliteratur. Im Spiegel des Verbrechens sieht man deutlicher, wie sich die Gesellschaft verändert.

Und wie verändert sie sich?

Ganz offensichtlich werden heute Serienmorde von Menschen verübt, die in der Luft hängen und nirgendwohin gehören. Es heißt zwar immer, viele Verbrechen seien sinnlos. Aber das stimmt nicht. Gewalt hat immer einen Sinn für den, der sie ausübt. Heute haben viele Menschen keine Arbeit. Die Gesellschaft spuckt sie aus. Das ist gefährlich. Denn so entstehen lebende Zeitbomben. Serienmörder sind solche Zeitbomben. Ich versuche herauszufinden, warum sie diese Verbrechen verüben. Kriminalität kann man nur bekämpfen, wenn man weiß, woher sie kommt. Da genügt es nicht, den einzelnen Täter zu betrachten. Man muss die Gesellschaft analysieren, in der er lebt.

Trotzdem: Agatha Christie kam meistens mit einem Toten aus. Bei Ihnen müssen es immer gleich mehrere sein.

Es kränkt mich etwas, mit Agatha Christie verglichen zu werden. Ihre Geschichten sind simple Whodunits. Ich erzähle, warum etwas geschieht. Das ist etwas völlig anderes. Mit üblen Fantasien hat das nichts zu tun. Denn egal was ich schreibe, die Wirklichkeit ist schlimmer. Die Wirklichkeit ist immer schlimmer. Ich könnte niemals etwas Schlimmeres erfinden als die Wirklichkeit.

Es macht Ihnen keinen Spaß, die grausamen Morde zu beschreiben?

Nein. Es setzt mir zu. Einen Text musste ich darum abbrechen. Er handelte von Gewalt gegen Kinder. Ich konnte nicht weiterschreiben.

Sehen Sie die Welt nicht ein bisschen zu negativ?

Ich finde gut, offen über ihre schlechten Seiten zu reden und zu schreiben. Und es ist schön, dass so viele Menschen es lesen.

Glauben Sie denn, dass Ihre Bücher gelesen werden, weil sie gesellschaftskritisch sind?

Sicher suchen manche in den Büchern vor allem die Gewalt und die Toten und die Spannung. Das muss man respektieren. Aber es gibt auch andere. In Schweden zeigt das Fernsehen gerade eine mehrteilige Serie, die ich geschrieben habe. Darin kommt kein einziger Mord vor. Aber enorm viele Leute gucken trotzdem zu.

Und das ausgerechnet in dem Schweden, das Sie kritisieren.

Die Probleme, die ich schildere, hat ja nicht Schweden allein. Ganz Europa leidet unter einer Identitätskrise. Die Grenzen werden eingerissen. Und die Menschen fragen sich, wer sie sind. Wie Europa sein wird. Es herrscht eine Leere, ein Pessimismus. Daraus entsteht Gewalt. Aber optimistische Menschen gibt es auch. Ich selbst zum Beispiel: Ich bin ein Optimist. Wir haben schon andere Probleme gelöst, also werden auch diese zu lösen zu sein.

Kommissar Wallander denkt gern an die gute alte Zeit zurück, als man noch seine Socken stopfte.

Die Socken sind ein Symbol. In der westlichen Welt wird viel weggeworfen. Socken. Aber auch Menschen. Der Einzelne ist nicht viel wert. Die Gewerkschaften sind schwach.

In Deutschland ist es nicht so einfach, an die gute alte Zeit zu denken. Weil das die Zeit der Nazis war.

Stimmt. Trotzdem hat Deutschland das gleiche Problem wie Schweden. Man reißt den Wohlfahrtsstaat zu schnell nieder. Dabei hätte es andere Wege gegeben, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

Sie sind doch gar nicht mehr so häufig in Schweden.

Zwei Drittel der Zeit lebe ich in Mosambik.

Warum sind Ihnen Schweden und Europa überhaupt noch so wichtig?

Ich bin Schwede. Ich bin als Schwede und Europäer geboren, und ich sterbe als Europäer. In Europa habe ich meine Wurzeln.

Warum haben Sie die verlassen?

Ich habe sie nicht verlassen. Ich verbinde sie mit etwas anderem. Sehr früh in meinem Leben als Schriftsteller habe ich begriffen, dass ich den Blick von außen brauche. Um das Bild von der Welt klarer werden zu lassen. Dabei verwandele ich mich nicht in einen Afrikaner, im Gegenteil: Afrika macht mich zu einem besseren Europäer. Darum habe ich Schweden verlassen. Nicht aus Romantik.

Sie haben eine bewegende Geschichte über ein Mädchen aus Mosambik geschrieben, „Das Geheimnis des Feuers“. Was kann man von Sofia lernen?

Sofia hat beide Beine verloren, weil sie auf eine Mine getreten ist. Und Sofia überlebt. Sie überlebt, was kaum ein anderer überlebt hätte, weil sie so stark ist. Das kann man lernen: Wenn man sich verloren fühlt, ist man noch längst nicht verloren. Es gibt noch immer viel Kraft in einem.

Ist Sofias Kraft typisch afrikanisch?

Nein. Sie ist typisch für den Menschen überhaupt. Für jeden. Die Menschen in Mosambik haben diese Kraft in letzter Zeit nur mehr gebraucht als wir.

In Ihren schwedischen Krimis beschreiben Sie sehr böse Menschen. In den afrikanischen Büchern eher Heilige.

Das finde ich nicht. Sofia ist stark, aber keine Heilige. Und Nelio aus meinem Buch „Comédia Infantil. Die Geschichte eines afrikanischen Straßenkindes“, das im September auf Deutsch erscheinen wird, genauso wenig. Ich habe keinen romantischen Blick auf Afrikaner.

Die Wallander-Serie haben Sie vor zwei Jahren beendet. Warum?

Aus Respekt vor dem Leser. Ich möchte ihm nichts vorsetzen, was mich beim Schreiben gelangweilt hat.

In den Büchern wiederholt sich manches.

Vielleicht haben Sie recht. Nach dem letzten Wallander-Krimi habe ich begonnen mich zu langweilen. Also habe ich aufgehört.

Was kommt jetzt?

Ich sollte wohl nicht darüber sprechen. Aber gut: Im letzten Wallander-Roman wird seine Tochter Linda Polizistin. Ich habe mich entschlossen, die nächsten Krimis über Linda zu schreiben. Mit ihrem Vater Wallander im Hintergrund.

Und sonst?

Ich habe vor ein paar Wochen eine Geschichte beendet, in der es darum geht, wie einer ehrlich das Gute will und doch das Böse tut.

Warum interessieren Sie sich so für Schuld und Unschuld und Gerechtigkeit?

Ich finde, das sind die menschlichen Grundfragen. Was für eine Gesellschaft wollen wir? In welcher Gesellschaft sollen unsere Kinder groß werden? Wenn man so fragt, muss man moralisch werden. Weil es um Moral geht. Man muss darüber sprechen. Sonst entsteht keine Gesellschaft, sondern ein Niemandsland. Und ich will nicht, dass meine Kinder in einem Niemandsland aufwachsen. Wenn Sie mich darum einen Moralisten nennen, sage ich nur: Danke.

Ist Ihre Haltung nicht ein bisschen altmodisch?

Auch dazu sage ich : Danke!

Ist es eine sehr schwedische Haltung?

Es ist eine europäische Haltung, die bis zu Goethe zurückgeht. Eine alte, intellektuelle Tradition, über Gesellschaft und Moral zu diskutieren.

Und wo bleibt der Humor? Ihre Bücher sind nicht sehr humorvoll.

Sie sind die Erste, die das sagt. Ich bin ein sehr humorvoller Mensch.

Wallander auch?

Klar. Er sagt doch lustige Dinge!

Warum ist er dann immer so deprimiert und betroffen?

Er ist halt so.

Über sich selbst haben Sie einmal geschrieben, als 16-jähriger Junge in Paris zum Menschen geworden zu sein. Wie war das gemeint?

Ich habe die Schule früh verlassen, weil ich das Gefühl hatte, keine Zeit zu haben. Also ging ich nach Paris. Und ich überlebte in Paris, ohne genau zu wissen, wie.

In Belleville, wo Sie Klarinetten reparierten?

Genau. Dort habe ich gelernt, für mich selbst zu sorgen. Allein zu sein. Ich merkte, wie ich auf schwierige Situationen reagierte. Und ich meisterte sie. Mir wurde klar, dass man niemanden anderen verantwortlich machen kann. Man muss die volle Verantwortung übernehmen. Immer.