Und zünden sich an

Vor einem Jahr schon marschierten sie auf Bukarest zu und wurden von den Truppen des rumänischen Innenministeriums gestoppt: Arbeitslose aus dem Schiltal, der größten Bergbauregion des Landes. Nichts ist aus den versprochenen Jobs geworden – die Arbeitslosenhilfe längst verbraucht. Armut und Elend greifen um sich, die blanke Verzweiflung

von KENO VERSECK

Einige aus der Gruppe haben es zwei-, dreimal getan. Haben schon Übung. Doru nicht. Er will sich heute zum ersten Mal anzünden. Mit seinen beiden Freunden steht er auf der Treppe des Kulturpalastes. An der Wand über ihnen, von der der Putz abblättert, hängt ein Schild: „Wir wollen arbeiten, nicht betteln!“ Die drei schütten Benzin aus Plastikflaschen auf ihre Kleider. Ein wenig auf die Beine, ein wenig auf die Brust. Die Leute um sie herum weichen zurück. Ihre Gespräche verstummen. Polizisten und Wachbeamte schauen mit verschränkten Armen zu. Ein Kameramann filmt, Feuerwehr steht bereit. Kein Krankenwagen. Die Klinik ist nur ein paar hundert Meter entfernt. Und die drei jungen Männer haben sowieso doppelte Kleidung an.

Lupeni im Schiltal, die größte Bergbauregion Rumäniens. Fast alle der 30.000 Einwohner sind arbeitslos. Vor dem Kulturpalast stehen seit zwei Monaten täglich einige hundert arbeitslose Bergarbeiter. Mal blockieren sie die Straße, mal zünden sich einige an. Der Bürgermeister kann sie aus dem Fenster seines Büros sehen. Manchmal kommt er und verspricht ihnen Arbeitsplätze. Auch heute hat er das schon getan, wie jedes Mal, ohne seine Sonnenbrille abzunehmen.

Plötzlich schreien die Leute auf. Zwei Männer brennen nur an den Beinen, aber Doru steht bis an den Kopf in Flammen. Er schlägt panisch um sich. Ein Feuerwehrmann springt herbei und löscht ihn in wenigen Sekunden. Einige Leute laufen auf die Straße und halten ein Auto an, ein paar andere tragen Doru durch das Gedränge zum Wagen, der Fahrer rast zum Krankenhaus. Diesmal ist das Spiel mit dem Feuer für einen von ihnen schlecht ausgegangen.

Die Leute scheinen sich an den grauenvollen Anblick gewöhnt zu haben. Sie beruhigen sich schnell wieder. Erst gestern haben sich vierzehn Menschen angezündet. Nichts ist passiert. Einer der drei Männer, die eben noch vor dem Kulturpalast in Flammen standen, zeigt auf seine Oberschenkel und lacht: „Ich hab ja nur hier ein bisschen gebrannt.“

Doru liegt auf der Chirurgiestation des Krankenhauses im Zimmer sieben am Tropf. Er hat rote Flecken im Gesicht und an den Armen. Verbrennungen ersten und zweiten Grades, sagt der Arzt. In ein paar Tagen wird sich Doru erholen. „Der Präfekt hat ein Fax geschickt und uns darin fünfhundert Arbeitsplätze versprochen“, sagt er, „aber das war gelogen. Deshalb hab ich mich angezündet.“ Er sagt es kühl, ungerührt, so als ginge es nicht um ihn.

Die Krankenschwester bringt ein Schälchen Brühe mit Möhrenwürfeln. Sie lächelt verlegen. „Löffel haben wir leider nicht. Sie müssen die Suppe schlürfen.“ Dorus Bettnachbar amüsiert sich. „Immerhin gab es heute warmes Wasser, ich konnte mich endlich waschen“, sagt er. „Auch geheizt wird jetzt wieder.“

Doru Caldararu ist 24 Jahre alt. Mit seinem Flaumbart sieht er aus wie ein Halbstarker. Nur seine Augen blicken wie die eines zu früh Gealterten. Er ist hier in Lupeni geboren, hier neun Jahre zur Schule gegangen, hat hier mit siebzehn Jahren als ungelernter Grubenarbeiter im Bergwerk Barbateni angefangen. Vor zweieinhalb Jahren wurde er entlassen, wie tausende andere Bergarbeiter im Schiltal auch.

Doru erhielt ein Jahresgehalt Abfindung – 9 Millionen Lei, damals 1.800 Mark. Er bezahlte Schulden beim Familienwohnheim und kaufte mit seiner Frau für tausend Mark eine Wohnung in einem halb zerstörten Neubaublock. Eine Wohnung ohne Wasseranschluss, ohne Heizung und ohne Fenster. Für die Renovierung reichte das Geld nicht mehr, deshalb wohnen die zwei jetzt bei Dorus Eltern.

Sein letztes Arbeitslosengeld bekam Doru im November, 180.000 Lei, knapp 20 Mark. Seitdem er das ausgegeben hat, gehen er und seine schwangere Frau täglich in die Armenkantine. Dort wird verfaultes Essen ausgegeben. Einmal in der Woche holen die beiden sich beim Bürgermeisteramt von Lupeni Milchpulver und Konservendosen mit überschrittenem Verfallsdatum ab; die schickt das Sozialministerium als kostenlose Unterstützung für Notleidende. „Ich würde jede Arbeit machen, nur um normal zu leben“, sagt Doru. Und wenn er keine findet? „Dann zünde ich mich eben wieder an.“

Selbstverbrennung ist in Mode gekommen in Rumänien. Das Beispiel einer obdachlosen Frau, die sich vor eineinhalb Jahren in der südrumänischen Stadt Pitesti verzweifelt anzündete und Monate später qualvoll verstarb, hat Schule gemacht. Vor allem im Schiltal.

Letztes Jahr marschierten tausende Bergarbeiter auf die Hauptstadt Bukarest, um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze zu fordern. Truppen des Innenministeriums schlugen die Revolte nieder, die Bergarbeiterführer kamen ins Gefängnis. Nun, ein Jahr später, ist für fast alle Kumpel das Arbeitslosengeld ausgelaufen. Ihre Kraft reicht nur noch zur Selbstverstümmelung aus. Seit Anfang des Jahres belagern verstreute Gruppen von Arbeitslosen die Bürgermeisterämter im Schiltal. Mehrere dutzend Menschen haben sich bisher angezündet. Obwohl die Selbstverbrennung symbolisch gemeint sein soll und die Darsteller des schaurigen Protestes jedes Mal doppelt und dreifach eingekleidet sind, haben sich einige schwer verletzt. Dennoch spielen die Kumpel das Spiel mit dem Feuer immer wieder. Es wirkt wie ein Aufbäumen, ein letzter Protest gegen das Dahinsiechen.

In der „Straße der Revolution“ in Lupeni krepeln die Menschen am Rande der Existenz vor sich hin. Sie wohnen in verfallenen Häusern. Durch die Dächer regnet es herein, die Wände können jeden Augenblick einstürzen, und die Dielen versinken im feuchten Erdreich. Alle Bewohner haben Krankheiten: Hepatitis, chronische Bronchitis oder Tuberkulose. Kinder wie Erwachsene. Ihr Besitz besteht aus Lumpen, einem Bett, einem eisernen Ofen. In manchen Behausungen stehen kaputte Fernseher, anderswo hängen Bildchen von westlichen Popstars an den schwarz verrußten Wänden. Strom und Wasser gibt es nicht, Toiletten auch nicht. Nur räudige, magere Katzen und Hunde scharren im Kohlenstaub nach Essbarem.

Auch in anderen Stadtteilen von Lupeni geht es den Menschen nicht besser. Das Viertel, das den Namen „Zukunft“ trägt, sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Manche Neubaublocks sind abrissreife Ruinen, in anderen hausen zwischen zerstörten Wohnungen Familien – dort, wo es noch Fenster und Türen gibt. Auch hier sind Wasser und Strom abgestellt. Für die Müllabfuhr existiert der Stadtteil nicht mehr. Als Abfallhalden dienen die zerstörten Wohnungen.

Doru und seine Frau wohnen am Rande des Viertels auf einem Hügel. Dorus Eltern besitzen hier eine winzige, schiefe Lehmhütte, in der zwei Menschen Platz finden. Ihrem Sohn und seiner Frau haben sie den Schweinestall überlassen. Ramona, Dorus Frau, reagiert kaum, als sie hört, dass ihr Mann sich heute angezündet hat. Ihr Schwiegervater, der selbst täglich vor der Bürgermeisterei in Lupeni steht, hat ihr erklärt, wie die Selbstverbrennung funktioniert. Ihr Mann hat überlebt, wird sich wieder erholen; das zu wissen reicht ihr.

Ramona ist neunzehn Jahre alt. Ein dürres, verhärmtes Mädchen mit langen aschblonden Haaren und irren Augen. Gekleidet in einen schmutzigen Pullover und eine zerrissene Trainingshose, die durchlöcherten Wollsocken trägt sie seit Monaten. Vor zwei Jahren hat sie ein Kind verloren, im achten Monat. Jetzt ist sie im fünften Monat, und ihr Bauch ist kaum zu sehen.

Im Schweinestall riecht es nach feuchtem Lehmboden und nach Dreck und Schweiß und altem Wasser. Die Hälfte der sechs Quadratmeter nimmt ein kleines Bett ein, in der anderen Hälfte haben ein Ofen, ein Hocker und ein paar Schüsseln Platz. Durch einen kleinen Ausguck fallen Lichtstrahlen auf ein Aquarium. Darin schwimmen bunte Zierfische. Alle drei, vier Monate hat Doru ihnen eine Tüte Futter gekauft; die kostete immerhin so viel wie ein Brot. Irgendwoher wird er das Geld wohl auch in Zukunft nehmen.

„Früher hatte ich ein besseres Leben“, sagt Ramona, und es klingt, als entsinne sich eine alte Frau ihrer Jugend. „Ich habe schon so lange nicht mehr gekocht, dass ich bestimmt vergessen habe, wie es geht.“ Sie zeigt das Essen aus der Armenkantine, eine stinkende, wässrige Suppe und als Hauptgericht ein paar Rindfleischstückchen mit fauliger Soße. Sie wird das Essen dem Hund geben, wie so oft. Oder es wegschütten, wenn auch der es verschmäht. Von den abgelaufenen Konserven wird ihr nur übel. Meistens isst sie Brot mit Fett. Die Vitamintabletten, die sie im Winter vom Amtsarzt bekam, hat sie gegen Brot eingetauscht. Hin und wieder raucht sie eine der filterlosen Zigaretten ihres Schwiegervaters. Sie müsste ins Krankenhaus, das steht auf dem Überweisungsschein vom Amtsarzt. Doch sie geht nicht. Sie schämt sich, weil sie keinen Morgenmantel und keine Strümpfe ohne Löcher besitzt.

„Das Schlimme ist, uns borgt niemand Geld für Brot“, sagt sie. „Alle wissen, dass wir arbeitslos sind und Schulden nicht zurückzahlen können.“ Sie lacht bitter. Dann sagt sie mit lauter Stimme, als wolle sie sich Mut machen: „Am besten, ich denke überhaupt nicht darüber nach, was morgen sein wird.“

KENO VERSECK, 33, berichtet seit 1991 regelmäßig aus Rumänien. 1998 erschien von ihm „Rumänien. Eine Landeskunde, München, C.H. Beck, 220 Seiten, 22 Mark