Inzestuöser Alptraum

Nur die Bilder überzeugen: Kresniks „Aller Seelen“-Uraufführung im Thalia-Theater  ■ Von Gabi Wittmann

Wer das Thalia-Theater an diesem Abend betritt, der kommt um sie nicht herum: Um die in Strickmütze und Küchenschürze gekleideten Schauspieler, die das Foyer belagern. Sie rutschen dem Publikum von Treppengeländern entgegen. Sie prügeln sich und versperren damit die Aufgänge. Sie fressen Salatköpfe und hauen sie zu Brei, auf dem schönen roten Veloursteppich des „heiligen Thalia-Theaters“, wie der Regisseur Johann Kresnik das Haus im Vorfeld dieser Uraufführung genannt hatte.

An diesem Abend gehört das Haus dem derben deutschen Bauernvolk, an dessen faschistischen Neigungen Kresnik sich inzwischen in über einem Dutzend Biografien abgearbeitet hat. Und nun wagt er es, seine eigene Biografie anzugehen: Aller Seelen erzählt von einem greisen Kind, das, wie Kresnik selbst, mit angesehen hat, wie der Vater auf Wehrmachtsurlaub von Partisanen erschossen wird. Doch der Text von Autor Werner Fritsch, der Ähnliches erlebt hat, lässt neben Flüchen und anzüglichen Bemerkungen nicht viel zu – vor allem nicht die Zeichnung oder Entwicklung von Figuren.

Aber das Stück soll ja auch ein surrealer „Alptraum“ sein. Auf Bierkisten sitzen die Bauern im Kreis und schrubben ihre Kinder. man feiert und singt „Deutschland erwache“, trägt Schornsteine, KZ-Kommandanten (Überragend: Susanne Wolff) durchsuchen den Hof nach Partisanen. SS-Funkenmariechen tanzen nackt mit hängenden Titten, und immer wieder überlagern sich Schichten aus Schlager, Nazi-Punk und Tusch zu einem Höllenlärm (Musik: Serge Weber).

Das Erregendste aber ist das Bühnenbild. Martin Zehentgruber hat einen riesigen Holz-Kasten aus tausenden von Stäben geschaffen, der den Schauspielern unendliche Möglichkeiten bietet: Sie sind darin eingesperrt wie in einem Gefängnis, klettern die Wände hoch und hängen in den Ecken wie eine Marienfigur, stochern zwischen den Stäben auf der Suche nach einem Grund. Zu einem Text über den Untergang der Welt tappt ein blinder, schwarz gekleideter Mann mit einem Stock über die hölzernen Stäbe, läuft dabei die Wände hoch, die Decke entlang, bis er wieder da ankommt, wo er losgegangen ist. Beleuchtet wird er nur von den brennenden Kerzen, die er auf seinem Rücken trägt.

Kresnik hat ein Händchen für Soli und Duette. Wenn es still wird auf der Bühne, dann gelingen ihm bestechende Bilder. Aus dem Boden wachsen dürre Eisenstäbe, durch die sich eine Frau wie durch ein Stolperfeld hindurchquält. Ein meterlanges Hemd zieht aus dem Boden herauf, zu dem der Junge mit seinem abwesenden Vater spricht wie Hamlet mit dem Geist seines Vaters. Ein überdimensionaler Gartenzweg wird herbeigerollt, dessen Antlitz entfernt die Züge des Schauspielers Michael Altmann andeuten. Da steht er, fünf Meter groß, der Vater als deutscher Durchschnitts-Michel. Im Halbdunkel besteigt ihn der Junge und kuschelt sich an seine riesige Nase, stumm, still. Und dann lebt plötzlich etwas in diesem Stück: Die Sehnsucht eines kleinen, vaterlosen Jungen, der für eine ganze Generation steht.

Hätte Kresnik Bildern wie diesen mehr vertraut, dann hätte Aller Seelen eine Spannkraft, der man sich nicht entziehen könnte. Die Stärke dieses Regisseurs liegt im bildhaften Tanztheater, nicht im Schauspiel, das zeigt diese Inszenierung wieder einmal ganz deutlich. Wenn der alte Joachim Konrad leicht gebeugt und O-beinig auf der Bühne steht, dann verwandelt er sich unzweifelhaft in einen kleinen, ungläubigen Jungen. Sobald er spricht, zerfällt dieses Bild jedoch in trockenes Sprechtheater. Das Publikum quittierte de Abend mit Buhs und Bravos gleichermaßen.

weitere Aufführungen: 15. – 17. Mai + 29. Mai, 20 Uhr, Thalia