Die Legenden der CDU

Einwanderungsland Deutschland (5): Ausgerechnet die CDU hat die Bundesrepublik für Einwanderer geöffnet. Die Union muss konstruktiv an einem Einwanderungsgesetz mitwirken
von EBERHARD SEIDEL

Das Debatten-Tohuwabohu um die Anwerbung von rund 10.000 Computerexperten zeigt vor allem eines: Einwanderungspolitisch ist Deutschland eine verspätete Nation, weit entfernt von einem Grundkonsens in der Frage, wer warum ins Land darf. Das ist umso erstaunlicher, als seit Mitte der Fünfzigerjahre und bis heute massenhaft und legal nach Deutschland eingewandert wird. Trotz des Anwerbestopps im Jahr 1973 und trotz der „Reform“ des Grundrechts auf Asyl im Jahr 1993. Es liegt nun an Rot-Grün, die Debatte in geordnete Bahnen zu lenken und einen Weg durch die höchst komplizierten und ausdifferenzierten Zuwanderungsregelungen zu weisen. Die Bundesregierung ist um diese Aufgabe keineswegs zu beneiden. Denn Ehrlichkeit und Rationalität in dieser Frage wird vom Wähler nur selten belohnt. Dies ist auch der CDU zu verdanken, die jahrzehntelang an irreführenden Legenden gestrickt hat.

Eine davon: Allgemein gilt die Union als Hüterin deutscher Interessen und Fürsprecherin all derer, die die Überfremdung durch Einwanderung fürchten. Komplementär werden SPD und Grüne von vielen Bürgern für die ungeliebte Präsenz von Millionen von Ausländern verantwortlich gemacht. Dabei ist das Gegenteil wahr: Es war die Union, die die Entwicklung eines multiethnischen Deutschland erst ermöglichte. Ihr allein gebührt das historische Verdienst, die Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland gemacht zu haben. Rücksichtslos gegenüber Bürgerinteressen.

Als zum Beispiel Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard Mitte der Fünfzigerjahre mit dem italienischen Außenminister über die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte verhandelte, lag die Arbeitslosenzahl noch bei über einer Million. Die Gewerkschaften protestierten, die SPD protestierte – vergeblich. Für die Christdemokraten galt: Gut ist, was der Wirtschaft und der Profitmaximierung dient. Und das hieß in den Sechzigerjahren: Holt Millionen Gastarbeiter ins Land! So sollte die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gebrochen werden, die zweistellige Lohnerhöhungen forderten. Als die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt, der erklärter Gegner der Einwanderungspolitik der Union war, 1973 einen Anwerbestopp verhängte, war es just der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der auf die ersten Ausnahmeregelungen drängte. Bayerns Tourismusbranche begehrte weiterhin billige Arbeitskräfte aus Jugoslawien.

Ob die extensive Ausweitung der Produktion durch die Anwerbung eines industriellen Proletariats in Südeuropa ökonomisch und gesellschaftlich tatsächlich so segensreich war, wie häufig behauptet wird, darf bezweifelt werden. Japan zum Beispiel ging damals einen anderen Weg. Es verzichtete auf „Gastarbeiter“, setzte auf Rationalisierung und Automatisierung und gewann so in den Siebziger- und Achtzigerjahren gegenüber Europa in der Automobil- und Elektroindustrie einen technologischen Vorsprung.

Einen Erfolg muss man der Einwanderungspolitik der CDU und CSU allerdings bescheinigen: In Deutschland gab es lange keine organisierte Massenbewegung des Rassismus. Dass dies nicht selbstverständlich war, zeigt das Beispiel Großbritannien. In London marschierten bereits 1969 tausende von Arbeitern mit rassistischen Parolen aus dem East End in Richtung der Houses of Parliaments; 25 Prozent der Mitglieder der pakistanischen Studentenvereinigung gaben an, schon einmal attackiert worden zu sein. Dabei war die Einwanderung nach Großbritannien mager: Nach 1962 immigrierten jährlich nur noch etwa 50.000 Menschen. Ganz anders dagegen in (West-) Deutschland: Zwischen 1955 und 1990 sind mehr als 20 Millionen Menschen zugezogen. Bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 waren dies allein 11 Millionen „Gastarbeiter“. Trotzdem blieb (West-) Deutschland bis Mitte der Achtzigerjahre von rassistischen Ausfällen weitgehend verschont. Ein Phänomen, das nach einer Erklärung verlangt.

Im Gegensatz zu Großbritannien, wo in den Sechzigerjahren bereits klar war, dass die Einwanderer auf Dauer bleiben und über kurz oder lang britische Staatsbürger werden, verbreitete die CDU eine andere Ideologie: Die Gastarbeiter würden nach ein paar Jahren wieder nach Hause gehen, versprach sie. Bei wohlwollender Betrachtung kann man die Sache folgendermaßen sehen: Mit dem Rückkehrversprechen organisierte die CDU eine migrationspolitische Übergangsphase, in der sich die Deutschen an die Dauerpräsenz der Fremden gewöhnen konnten. Es gehört tatsächlich nicht viel Fantasie dazu, sich den Bürgerprotest vorzustellen, hätte die CDU bereits in den Fünfziger-, Sechziger- oder Siebzigerjahren eine offensive Einwanderungspolitik betrieben. Sprich: Einbürgerungen erleichtert, das völkische Selbstverständnis in Frage gestellt und das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert sowie ein Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet. Die Behandlung der Ausländer als Heloten, als Menschen zweiter und drittter Klasse – wahrscheinlich war dies unabdingbare Voraussetzung, um die in einem völkischen Selbstverständnis verhaftete Republik behutsam zu öffnen. Die Union ermöglichte damit, dass der Dominanzanspruch der Deutschen nicht in Frage gestellt wurde. Ihr Konzept entsprach damit dem unterentwickelten zivilgesellschaftlichen Stand der bundesrepublikanischen Gesellschaft jener Jahre.

Aber spätestens seit Mitte der Achtzigerjahre war klar, dass dies ein auslaufendes Politikmodell war. Man kann nicht über Jahrzehnte Millionen von Menschen ins Land holen und ihnen die Bürgerrechte vorenthalten, will man nicht die Spaltung der Gesellschaft riskieren. Die Union verweigerte sich dieser Einsicht, und somit wurde immer offensichtlicher, dass es der SPD und der Grünen bedurfte, um das von der Union angerichtete migrationspolitische Chaos nachholend zu ordnen und politisch zu gestalten.

Eine heikle Mission. Denn die rot-grüne Regierung muss nun den Perspektivwechsel hin zu einem Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft organisieren, die die Fragen von Zuwanderung und Integration als Zukunftsaufgabe begreift. Gleichzeitig ist ein Einwanderungsgesetz vorzubereiten, das für die Bürger endlich Transparenz schafft. Diese Durchschaubarkeit hat die Union bisher verweigert und ein verwirrendes Gestrüpp der Regelungen geschaffen. Dazu gehören Gesetze für Familiennachzug und Aussiedler, Ausnahmeverordnungen für Saisonarbeiter und Kontingentkräfte sowie Altfallregelungen für Flüchtlinge. Auf eine verantwortungsbewusste CDU-Opposition kann die Regierung indes nicht zählen. Sowohl die Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vor der Hessenwahl als auch Jürgen Rüttgers „Kinder statt Inder“-Kampagne haben dies gezeigt. Bleibt nur zu hoffen, dass zumindest die neue CDU unter Angela Merkel begreift, dass die Partei gegenüber den von ihr ins Land geholten Einwanderern und gegenüber der Gesellschaft noch eine Bringschuld hat.

Hinweise:Die „Gastarbeiter“ sollten die Macht der Gewerkschaften brechenDeutschland blieb erstaunlich lange von organisiertem Rassismus verschont