Das Nichts des Himmels

Abstraktion und Eigensinn: Sandro Botticellis Zyklus zu Dantes Göttlicher Komödie in Berlin

von HARALD FRICKE

Im Fegefeuer sind die Schrecken nicht immer greifbar. Manche Qualen bleiben abstrakt. Ein Flammengeist etwa setzt sich aus ein, zwei Dutzend Schlängellinien zusammen. 30 Flammengeister werden solchermaßen als falsche Ratgeber im achten Kreis der Hölle bestraft. Besorgt schaut Dante in den Graben, aus dem ihm die in Feuer verwandelten Fürsten und Tyrannen entgegenzüngeln. Kurz zuvor wäre er beinahe selbst hinabgestürzt, weil ihm beim Anblick der malträtierten Seelen schwindelig wurde.

Dante Alighieri war 35 Jahre alt, als er mit der Niederschrift seiner „Göttlichen Komödie“ begann. Als Ich-Erzähler wandert er – von der Schattengestalt des längst schon verstorbenen römischen Dichters Vergil begleitet – durchs Inferno, sieht sich beim Läuterungsberg an, wie die verlorenen Seelen Buße tun, und erblickt schließlich im Paradies die heilige Jungfrau Maria, deren Herrlichkeit ihn sprachlos macht. Das alles spielt sich in den Ostertagen des Jahres 1300 als Vision in Reimform ab, die weltliches Unglück und himmlische Erfüllung miteinander versöhnt.

Nach ihrer Veröffentlichung sind Dantes Verse in der Renaissance von zahlreichen Künstlern illustriert worden, darunter Guglielmo Giraldi und unbekannte Meister aus Siena. Die berühmtesten Darstellungen stammen allerdings von Sandro Botticelli, dessen 92 erhaltene, etwa zwischen 1481 und 1495 entstandene Zeichnungen des „Commedia“-Zyklus im Kupferstichkabinett von Berlin zu sehen sind. Als farblich abgestufter Rundparcours mit einem blau gehaltenen Paradies im Zentrum. Auch die eingangs erwähnte Szene des „Inferno XXVI“ gehört dazu. Sie hängt an einer Wand, so rot wie getrocknetes Blut.

Tatsächlich ist die Berliner Ausstellung einmalig. Und erstmalig. Denn bislang wurde das vollständige Konvolut seit der Entstehung vor 500 Jahren noch nie öffentlich gezeigt. Botticelli fertigte die Blätter im Auftrag von Lorenzo di Pierfrancesco de‘ Medici an, sieben davon gelangten in späteren Jahrhunderten in die Bibliothek des Vatikan, der Rest ging in die Sammlung des Duke of Hamilton, der die zarten Pergamente 1882 für eine Million Goldmark an das Berliner Museum verkaufte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde gut ein Drittel der Zeichnungen von den Alliierten den Kunstsammlungen in Dahlem zurückübertragen, die anderen bekam das Alte Museum in Ostberlin. Dabei war die Zuteilung selbst sehr symbolisch: Der Westen erhielt die Darstellungen des Infernos, der Osten musste mit Purgatorium und Paradies vorlieb nehmen.

Bereits zu Zeiten Botticellis, der von 1444/45 bis 1510 lebte, galt die bildnerische Ausschmückung von Dantes Fantasie als vermintes Gelände. In Florenz waren die Konflikte zwischen Klerus und den herrschenden Medici nicht mehr zu überbrücken. Obwohl der ältere Lorenzo de‘ Medici während der Pazzi-Verschwörung einflussreicher Florentiner Familien den Erzbischof von Pisa 1478 aufhängen ließ, wuchs der Druck der Kirche im folgenden Jahrzehnt unter dem dominikanischen Bußprediger Girolamo Savonarola. Gegen die üppige, weltzugewandte Medici-Kultur setzte Savonarola auf Askese und einen bibelfesten, wenn nicht bilderlosen Katholizismus. Deshalb war auch Botticellis Karriere, der die Ermordung der Medici-Gegner in Schandbildern gefeiert hatte, nach der Übernahme von Florenz durch die Guelfische Partei vom guten Willen der Kirche abhängig. Dass er fortan religiöse Darstellungen des Pfingstfestes oder sittsame Altargemälde anstelle so sinnlicher Bilder wie der „Geburt der Venus“ malte, gehörte insofern zur Überlebensstrategie. Vielleicht nannte man ihn auch deshalb „persona sofistica“.

Für den spitzfindigen Geist Botticellis spricht zumindest die Vielschichtigkeit, mit der er in den Zeichnungen zur „Göttlichen Komödie“ sichtbar macht, was in der Hölle, aber auch im Himmel passiert. Immer hält er sich dabei an die genauen Vorgaben bei Dante. Mehr noch, Botticelli stellt ausschließlich dar, was der Dichter im Text visuell wahrnimmt – Träume, Erzählungen von anderen oder Reflexionen über Dasein und religiöse Innenschau bleiben ausgespart. Man mag trotzdem kaum glauben, dass der Maler ein Analphabet war und Dantes Verse nur aus zweiter Hand vom Vorlesen kannte. Dafür ist Botticelli als Zuhörer von einer unglaublichen Präzision: Selbst komplizierte Bildschichtungen werden bei ihm mit leichter Hand in Sequenzen übertragen, die im Mehrfachverfahren die Handlung ins Bild setzen. Das Höllentheater Botticellis funktioniert fast wie ein Vorläufer der kinematischen Experimente von Eadweard Muybridge und Marey, die mit der Kamera Phasenverschiebungen sichtbar machten.

Der Zeichner hingegen hat sich die blitzartigen Veränderungen der Wirklichkeit aus lauter zeitlich versetzten Erinnerungsmomenten auf dem Papier zusammenmontiert – nicht aus Liebe zur Wissenschaft (wie bei seinem Zeitgenossen Leonardo da Vinci), sondern aus Faszination am Effekt. Deshalb kann Botticelli auch die wechselvolle Dramatik nahezu bruchlos wiedergeben, mit der Dante im „Purgatorio V“ von rastlosen Seelen bestürmt wird. Es ist, als würde die eben erst entdeckte Zentralperspektive der Renaissance sogleich wieder von einem Patchwork aus intensiven Wahrnehmungsfragmenten abgelöst. Das ist kein Rückgriff auf die Darstellungen im Mittelalter, sondern ein weiter Sprung in die Gegenwartsprobleme der Kunst.

Das Kino im Kopf von Botticelli ist aber nur ein Aspekt, der die von Hein-Th. Schulze Altcappenberg recherchierte Ausstellung sehr viel aufregender, neuartiger und intellektuell stimmiger macht als die Jahrhundertwälzer zur Moderne vom letzten Jahr. Wenn er bei Botticelli erste Ansätze zur Konzeptkunst erkennt, weil die letzten, der reinen Anschauung gewidmeten Pergamentblätter des Zyklus weiß geblieben sind, dann greift diese Begeisterung für eine weit zurückliegende Kunstgeschichte sofort auch auf den Betrachter über. Plötzlich wird ein Denken sichtbar, dass zugleich unmittelbar an der äußeren Welt geschult ist und doch nach den blinden Flecken der Wahrnehmung sucht. Natürlich hat auch Malewitsch von der Renaissance gelernt, als er seine ikonengewordenen Quadrate malte – aber woher konnte Botticelli seine Erkentnisse nehmen?

Gottesfurcht wird es vermutlich nicht gewesen sein. Eher schon das künstlerische Umfeld einer Zeit, in der Dantes lyrische Apotheose die Zustimmung der Kirche fand – und die Maler nach diesem Vorbild begierig nackte Leiber im Fegefeuer und abstrakte, nie eindeutig entschlüsselbare Zeichen schaffen konnten. Oder eben das Nichts des Himmels. Dieser Eigensinn klingt auch bei Damian Dombrowski mit, wenn er in seinem Katalogbeitrag schreibt: „Schließlich wird das einzelne Werk nicht durch den Stoff unverwechselbar, sondern durch den Umgang des Künstlers mit dem Stoff“. Ein Rest Rätsel bleibt immer.

Sandro Botticelli: „Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie“, bis 18. 6., Kupferstichkabinett im Kulturforum, Berlin. Katalog, Cantz Verlag, Stuttgart, im Buchhandel 128 DM, in der Ausstellung 59 DM