Fest im Gestern, vage im Morgen

von ANDREAS WILLISCH

Ene, mene mu, und raus bist du . . . Jetzt wird wieder abgezählt. Zwar versteht niemand so recht den Inhalt des Abzählreims, doch das, was da gemacht wird, kennen alle. Derjenige, auf den am Ende der Finger zeigt, muss zurücktreten aus dem Kreis und erhält seine Chance erst wieder in der nächsten Runde – wenn es denn für ihn eine nächste Runde gibt.

So könnte es vielen der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger, Aussiedler, Asylsuchenden, Vorruheständler, Alleinerziehenden, Jugendlichen ohne Ausbildung, Obdachlosen, der öffentlich Angestellten mit k. w.-Vermerk oder Scheinselbstständigen gegangen sein. Kostenrationalität oder 15-Prozent-Rendite sind die gesellschaftlichen Formeln eines Abzählvorgangs am Ende der Vollerwerbsgesellschaft.

Dabei sind die zahlreichen Kategorien des sozialstaatlichen Verteilungsmechanismus mittlerweile selbst ein Teil des Problems. Im Sozialstaat sind wir es gewohnt, für alle Risikolagen des (Erwerbs-)Lebens Sicherungsräume vorzufinden. Wer arbeitslos war, erhielt Arbeitslosengeld. Am Ende der Karriere nach unten war zumindest Sozialhilfe garantiert. Wenn Unternehmen kurzfristig ihre Bilanzen verbessern wollten, wurden Vorruhestandspläne gemacht, damit die älteren und besser bezahlten Mitarbeiter das Unternehmen verlassen.

Diese Haltung ward auch oft Ankömmlingen zuteil. Aussiedler und andere Einwanderer wurden über das Land verstreut und mit Sozialhilfe versorgt. Dem auf diese Weise sozialversicherten Kapitalismus wurde eine allgemein geteilte Moralökonomie eingeprägt, die garantierte, dass sich auch jene, die sich übergangsweise zu den Verlierern zählen mussten, halbwegs akzeptabel in der Gesellschaft bewegen konnten.

Doch aus den Verlierern sind heute Überflüssige geworden, weil sich das Übergangsrisiko auf Dauer an ihnen festgekrallt hat. In Niedergörsdorf, südlich von Berlin, erbte die Gemeinde nach der Wende einen alten Flugplatz von der sowjetischen Roten Armee. Sie entschied sich, die damals nicht vermietbaren Offizierswohnungen für Asylbewerber aufzumöbeln. Dann kamen russlanddeutsche Aussiedler aus Kasachstan. Im Grunde genommen hatten wir in Deutschland für sie alles bestens vorbereitet. Die Offizierssiedlung wurde angestrichen, die Wohnungen hergerichtet, ein Billigkaufhaus angesiedelt und ein Sportstudio. Sogar eine menonitische Gemeinde war gegründet worden, damit die alten Neudeutschen schnell hier Fuß fassen konnten.

Eines allerdings war vergessen worden bei der föderalen Umsorge: Niedergörsdorf war eine kleine südbrandenburgische Landgemeinde in einer strukturschwachen Region geblieben. Die Einwanderer kamen unter anderem aus der Großstadt Alma-Ata, waren Diplomsportlehrer, Kulturhausleiter oder Chefsekretärin in einer Universitätsklinik. Und obendrein waren die Menschen aus der Sowjetunion kaum religiös, kaum jemand schloss sich der menonitischen Gemeinde an: moderne Menschen in einem Vorzeige-Integrationsobjekt, versehen mit Sozialhilfeanrechten und Umschulungszertifikaten, mit der Verpflichtung allerdings, mindestens zwei Jahre an dem Ort zu bleiben, dem sie zugewiesen wurden. Die Falle war zugeschnappt. Von dem, was sie mitgebracht haben, wollten wir hier nichts haben; das, was sie zu schaffen bereit sind, können wir selbst, also sortieren wir sie ein, in unseren Auszählvorgang . . . Raus bist du noch lange, lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist.

Die Generation der Großeltern hat sich in diesem Übergang eingerichtet, damit es die Kinder in Zukunft einmal besser haben werden. Sie mussten die stalinsche Verfolgung erleiden. Sie sind die am meisten deutsch Konservierten. Dass die Jugendlichen auf der Straße Russisch sprechen, empfinden sie als undankbar. Die ältere Generation besinnt sich ihrer religiösen Wurzeln wieder. Die jungen Eltern erleben ihre kleine persönliche Wende täglich neu: die individuellen Abwicklungen, die Umschulungen von Diplomsportlehrern zu Fliesenlegern. Sie sprechen noch Russisch in der Familie, die Wohnungen aber sind kleindeutsch geordnet.

Die Träume von einer sorgenfreien Welt, die sie zu uns führten, haben sich in einen Pragmatismus der Gegenwart verwandelt. Die Zukunft hat ihre Illusionen verloren. Dem russischen Leben ist die Tiefe vergangen, als Deutsche funktionieren sie gut. Sie sind fleißig und machen jede Arbeit. Die Jugendlichen fühlen sich am wenigsten als Deutsche. Meistens wollten sie hier nicht her. Manchmal befinden sie sich in einem Wettstreit mit Neonazis der Region: Wer sind die Besseren?

Eine Flucht aus diesen Verhältnissen nützt nichts, denn nirgends ist es wirklich anders als in dieser Siedlung. Hier in Brandenburg aber gibt es Wohnungen: immerhin ein Ort. Denn egal was das Leben noch bringen mag, erst einmal heißt es, irgendwo anzukommen, eine Heimstatt zu haben und dazuzugehören. Um das Niemandsland zwischen russischer Kultur und Deutschland zukünftig überwinden zu können, werden die meisten jungerwachsenen Neudeutschen zur Bundeswehr gehen. Dort beginnt ihre Karriere des Deutschwerdens.

Die Überflüssigen leben in einem eigentümlichen Zwiespalt: Sie suchen überall Gelegenheiten: Gelegenheiten der Geselligkeit, des Geldverdienens, der persönlichen Ekstase. Auf der anderen Seite haben sie den stärksten Glauben an die kulturellen Grundorientierungen der herrschenden Kultur. Sie sind die Helden der Kontingenz – einerseits Avantgardisten und anderseits kulturelle Reaktionäre. Sie verbleiben mit einem Bein im Gestern und tasten mit dem anderen in einem ungewissen Morgen. Das Problematische ihrer ungesicherten Existenz ist nicht, arbeitslos zu werden, sondern die sich verfestigende Unmöglickeit, neue Gelegenheiten zu erschließen. Für Friedrich Engels waren die irischen Bauern die Überflüssigen, die nach dem Abflauen des wirtschaftlichen Aufschwungs in ihre irische Heimat zurückkehren wollten, aber alle traditionellen Positionen in Dorf und Familie besetzt vorfanden. Ihnen blieb nur, mit kleinen Gewerben durch die Lande zu ziehen, um irgendwann wieder Anknüpfungspunkte zu finden.

Ähnlich stellt sich die Situation für zahlreiche Bremer Informatiker dar, deren Rüstungsfirma vor zwei Jahren geschlossen wurde. Die Jahre des Wohlstands hatten sie genutzt, um sich in den Dörfern rund um Bremen anzusiedeln. Die Wohlständigkeit der Bewohner machte aus den Landgemeinden einen Mittelstandsgürtel. Hier haben scheinbar alle ihr persönliches Glück und den individuellen Erfolg gefunden – auf die gleiche Weise, mit Reihenhaus, Zweitwagen und Garten. Die Reaktion auf die Krise fiel folglich ähnlich uniform aus. Von 70 Ingenieuren waren zuletzt 30 auf die eine oder andere Weise selbstständig, meist – da hält der Sozialstaat wieder eine Kategorie bereit – scheinselbstständig. Die große Erzählung ihrer Karriere ist aus dem Tritt geraten.

Dem zeitlichen Nacheinander folgt heute ein „alles zugleich“. Sie reagieren darauf mit einer Hyperaktivität, die stark komprimierten Anforderungen kleinzuarbeiten. „Projektemacherei“ nennt das der Psychologe Dietrich Dörner in seinem Buch „Logik des Misslingens“. In ihren scheinselbstständigen Arbeitsverhältnissen quälen sich die entlassenen Informatiker von Auftrag zu Auftrag, hoffend, durch eine feste Anstellung wieder auf den Pfad der Sicherheit zurückkehren zu können. Sie haben die Wahl, wegzugehen und ihre ohnehin gekappten sozialen Beziehungen noch weiter auszudünnen oder die Insignien eines vergangenen beruflichen Erfolgs zu verwalten.

So bedeutet Zukunft Einsamkeit oder Überflüssigkeit. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat integrierte über das Arbeitsleben. Das selbst verdiente Geld galt für die meisten Bürger der Gesellschaft als das höchste Maß an Selbstständigkeit. Doch seit das Erwerbsleben an Einfluss verliert, geraten alle davon abgeleiteten Rechte auf die schiefe Bahn: die Ökonomie der entwerteten Rechte. An ihre Stelle tritt ein intensivierter Diskurs über Nützlichkeit.

Gerade der Streit um die Green Card offenbart die Extreme dieser Kommunikation. Willkommen ist, wer der Volkswirtschaft oder der deutschen Nationalgesellschaft nutzt. Das Asylrecht sowohl als politischer als auch als materieller Fluchtgrund gilt als unangemessene Belastung. Am Thema Einwanderung wird nur vollzogen, was in der gesamten Gesellschaft im Argen liegt. Es gibt keine gesellschaftliche Übereinkunft, aufgrund deren Kriterien man als vollwertiger Bürger gelten kann.

Ersatzweise werden ältere Kriterien, die sich längst überholt haben, wie der Nationalismus („Kinder statt Inder“) reaktiviert. Die Zukunft hält auch für die Überflüssigen viele Chancen bereit, wenn es möglich wird, diese überhaupt wahrzunehmen. Doch was ein Bürgerrecht ist in einer Wissensgesellschaft, deren Wirtschaft von der Globalisierung profitiert, harrt einer nachdrücklichen politischen Diskussion. Bürgerrechte sind ein Antiabzählmodus.

Hinweise:

ÜBERFLÜSSIGE BRAUCHEN:Anknüpfungspunkte, um gefragt zu sein

ÜBERFLÜSSIGE BRAUCHEN:Bürgerrechte. Sie sind ein Antiabzählmodus.