Der „verdiente Arzt des Volkes“

Der Arzt Jussuf Ibrahim, der „Retter der Kinder“ und Ehrenbürger der Stadt Jena, war aktiv am Euthanasie-Programm der Nazis beteiligt. Jahrelang wollte die Stadt entsprechende Hinweise nicht glauben. Nun ist das Denkmal gestürzt
aus Jena KATRIN ZEISS

Der Kinderarzt Jussuf Ibrahim (1877–1953), Ehrenbürger der Stadt Jena, war aktiv am Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten beteiligt. Dieses Ergebnis teilte gestern eine Wissenschaftlerkommission der Friedrich-Schiller-Universität mit, zu deren prominentesten Vertretern Ibrahim zählte. Die Kommission wurde Anfang des Jahres einberufen, nachdem sich die bereits 1993 erstmals erhobenen Euthanasie-Vorwürfe seit Anfang des Jahres nicht mehr verleugnen ließen.

Mindestens sieben getötete Kinder hat Ibrahim, der bis in die Gegenwart den Beinamen „Retter der Kinder“ trägt, zu verantworten. Er hatte sie nach 1941 von der von ihm geleiteten Uni-Kinderklinik direkt in die „Kinderfachabteilung“ des nahe gelegenen Psychiatrie-Krankenhauses Stadtroda eingewiesen. „Kinderfachabteilungen“ waren Spezialabteilungen zum Töten schwer behinderter Kinder. 30 davon gab es in Deutschland.

Mit ihrem Bericht hat die Uni-Kommission das Denkmal Ibrahim gestürzt. Der 1877 in Kairo als Sohn eines Ägypters und einer Deutschen geborene Ibrahim kam Ende des Ersten Weltkrieges nach Jena. Dort übernahm er den Lehrstuhl für Kinderheilkunde und baute die Universitäts-Kinderklinik auf, die er bis zu seinem Tod leitete. 1947 wurde er Ehrenbürger und Universitäts-Ehrendoktor. Die DDR verlieh ihm den Nationalpreis und den Titel „Verdienter Arzt des Volkes“.

Die Ergebnisse der Kommission sind keineswegs überraschend. Die Jenaer Medizinhistorikerin Susanne Zimmermann hatte beim Überarbeiten ihrer 1993 vorgelegten und jetzt als Buch erschienenen Habilitationsschrift über die Nazi-Vergangenheit der Medizin-Fakultät bereits entsprechende Hinweise gefunden: In einem Brief an Gerhard Kloos, Leiter des Krankenhauses Stadtroda, attestiert Ibrahim einem zweijährigen Zwillingsjungen eine „offenbar aussichtslose Zukunft“ und fragt: „Vielleicht könnte er bei Ihnen eine nähere Beobachtung und Beurteilung finden. Euth??.“

Diese Hinweise wurden von der Stadt Jena ignoriert. Erst nach einem Vortrag von Susanne Zimmermann und dem Frankfurter Euthanasie-Forscher Ernst Klee zu Jahresbeginn begann die Aufarbeitung. Die „Ibrahim-Kommission“ wertete Krankenakten aus, befragte Zeitzeugen und las wissenschaftliche Abhandlungen Ibrahims. Was sie fanden, war für die Experten eindeutig. Sie sprechen von einer „grundsätzlich positiven Einstellung zur Rassenhygiene“, aus der heraus Ibrahim „die Tötung schwerstgeschädigter Kinder nicht nur befürwortet, sondern dazu unmittelbar beigetragen hat“.

Die Universität kündigte gestern an, die nach Ibrahim benannte Kinderklinik in Kürze umzubennen. Am Klinikneubau soll eine Gedenktafel, vielleicht auch eine Skulptur zur Erinnerung an die Opfer angebracht werden. Und auch einen ökumenischen Gottesdienst soll es für die Opfer geben. Nun ist der Jenaer Stadtrat am Zug. Wird die Stadt den aktiv an den NS-Verbrechen beteiligten Mediziner weiterhin als Ehrenbürger führen? Vor dieser Frage stand das Stadtparlament bereits Ende März. Damals hatte Oberbürgermeister Peter Röhlinger (FDP) seinen eigenen Vorschlag zur Aberkennung der Ehrenbürgerwürde wieder zurückgezogen – und sich auf eine angebliche geheime Rettungsaktion todgeweihter Stadtrodaer Kinder durch Ibrahim bezogen. Diese Aktion hat es jedoch nachweislich nie gegeben.

Fotohinweis:Jussuf Ibrahim (1877 – 1953) war für viele Bürger in Jena ein Vorbild. Wann wird ihm die Ehrenbürgerwürde aberkannt? FOTO: ZENTRALBILD