Der Hörnchengriff ohne Bremsen

■ Berge sind kein Privileg der Bayern / Mountain-Biking in Norddeutschland ist nicht nur möglich, sondern wird tatsächlich auch ausgeübt / Ein hügeliger Bericht vom Norderstedter Müllberg und seinen Bikern

Lieber tot als Schwungverlust!“ Selten gewordene Worte in unserem verweichlichten Wohlfahrtsstaat, wo schon Kleinkinder fürs Rüberreichen der TV-Fernbedienung vom Sessel zum Sofa drei Mark verlangen. Heldenworte, Vorheldenworte, weiß der Kuckuck, solche Worte kann man aufschnappen (auch: „Wer bremst, verliert!“), wenn man sich an einem Berg namens Müllberg in einer Stadt namens Norderstedt herumtreibt. Norderstedt liegt in der Einflugschneise des Hamburger Flughafens, und jener Müllberg liegt erstaunlicherweise an der Oadby & Wigstone-Straße.

Ein bemerkenswerter Ort, den man aber erst bemerkt, wenn man sich ganz flach auf den Boden legt und über Norddeutschland hinwegkuckt, um Berge zu finden. Denn man hat vielleicht zufällig gehört, dass es in Norddeutschland organisierte Mountain-Bike-Fahrer gibt, die an internationalen Wettbewerben teilnehmen. Weil aber „Mountain-Bike“ Bergfahrrad heißt, sollte man nach Bergen suchen, um die Fahrer zu finden. Da es in Norddeutschland viele Stellen gibt, die sich Berg nennen, ohne Berg zu sein, sucht man mit Gewinn nach Müllbergen, wenn man in Wirklichkeit trainierende Mountain-Biker finden will. Auf dem Müllberg an der Oadby & Wigstone-Straße sieht man mit Glück den Harvestehuder Radsportverein von 1909 e.V. Hamburg trainieren. Genauer seine 14 jugendlichen Mountain-Biker mit ihrem jungen und engagierten Diplomtrainer, Markus Schellenberger. Ein schönes Bild!

Ein schönes Bild: Jungs, die Worte wie „Lieber tot als Schwungverlust“ kennen, wie übermütige Kängurus über Stock und Stein sowie Glasscherben (aus dem Bauch des Müllbergs!) hüpfen zu sehen. Blau-gelb das Trikot, in den Farben des stolz präsentierten Sponsors. Schwarz die enganliegende Radsporthose, in diesen Apriltagen noch in der Ausführung „lang“. Grün und braun der von zahlreichen Trainingsrunden aufs grobstolligste zerfurchte Rasen des Müllbergs. Hie ein Hupfhügel, wo das Vorderrad abheben möchte und auch soll, da eine Steilauffahrt, die das rechte Maß zwischen Vorderradbelastung und Hinterradentlastung verlangt. Abheben oder durchdrehen, das sind die Namen der beiden Abgründe, die links und rechts vom Gratwanderweg gähnen, als der das Fahren eines Mountain-Bikes beschreibbar ist.

Der Diplomtrainer, Herr Schellenberger, den man aufgrund seiner Jugendlichkeit (30 Jahre) immerfort Markus zu nennen sich verlockt fühlt (wie überhaupt man Sportler, zumindest im Fernsehen, praktisch stets beim Vordernamen ruft, während man Politiker oft nur mit Familiennamen kennt, eine sehr seltsame Koinzidenz!) ... der Diplomtrainer also verweist gern darauf, dass Mountain-Biking nachgerade in vier Disziplinen zerfällt: Cross Country, wie man's am Norderstedter Müllberg erlebt; Dual-Slalom, wo stets zwei gegeneinander fahren; Trial, ein eher von Artistik und kühnen Sprüngen geprägter Radsport, auch in der Halle ausgeübt; und Down Hill.

Letztere Variante stutzt nun den Norderstedter Müllberg brutal auf das zurück, was er nach Ansicht von Bayern, Baden-Württembergern und sogar Wuppertalern eigentlich ist: ein erbärmliches Hufchen Hundedreck, das nur die Fliegen freut. Denn ein Downhill-Rennen, das eben immer nur bergab geht, wäre hier nach fünf Sekunden zu Ende.

Aus diesem Grund wird in Norddeutschland Downhill nicht ausgebt. Aber Cross Country dafr umso mehr. Es hat sogar schon mal am Müllberg bei der Oadby & Wigstone-Strae ein World Cup-Rennen gegeben! Und sogar gilt dieser Berg als ausgesprochen anspruchsvoll.

Denn es geht immer nur kurz erholsam bergab, schon geht es wieder bergauf, und oft bergauf „läppert sich“, wie der Fachmann sagt.

Mountain-Biking ist in mehrerer Hinsicht ein „zweischneidiges Schwert“ (Schellenberger)

Zum Beispiel ist es einerseits schick, es ist angesagt. Es bringt Jugendlichen, wie sie sich möglicherweise ausdrücken würden, „Fame“.

Und hat doch andererseits eine starke „Naturkomponente“ (Schellenberger). Letztere führt zu dem Phänomen, dass der Interessent nicht nur Kraft ausüben können sollte und der Ausdauer zumindest nicht abgeneigt sein darf – Geschicklichkeit muss ebenfalls da sein, denn man möchte schließlich nicht ununterbrochen gegen Felsen oder Erdhaufen stoßen und sich mit dem „Sportgert“, wie Insider sagen, verheddern. Das – und sonst überraschend wenig, glaubt man dem Coach (“Stürze halten sich in Grenzen“) – kann zu unangenehmen Verletzungen führen. Es schneidet dann eventuell das dreifache Kettenblatt hässliche Wunden in den Ober- oder Unterschenkel des Mountain-Bikers.

Außerdem kann man sich, wie es so heißt, die „Eier wehtun“, wenn beim Aufsetzen des Bikes auf hartem Untergrund der kaum gepolsterte Sattel ins Gemächt schlägt. Um solche Unannehmlichkeiten im Wortsinne abzufedern, greift man heute gern zu gefederten Vorderrädern oder gar zu der kostenintensiven „Full-Suspension“-Version, der Vollfederung also.

Es haben sich auch sogenannte Lenkerhörnchen bewährt, die aussehen wie kleine Hörnchen an den Lenkerenden. Sie ermöglichen das beliebte „Umgreifen“.

Allerdings kann man beim Hörnchengriff nicht mehr bremsen. Doch wer will das schon?! Wer bremst, verliert, denn natürlich ist Bremsen die stümperhafteste Version des Schwungverlustes. Und letzterer ist ja, wie wir hörten, ein größerer Schrecken als selbst der Tod. BuS