Chill-out auf dem Everest

Endlich ist wieder klar, wo Gott hockt: Junge Regisseurinnen hinterfragen beim Züricher Nachwuchstheaterfestival Hope and Glory weiter tapfer die Echtheit ihrer Biografien

von TOBI MÜLLER

Ein Nachtisch ohne Hast in einem guten Restaurant, die Käseglocke wird gelüftet, man redet jetzt über Geschmack. Nachher vielleicht noch den einen Drink zu viel im Club, auch das hat seine Ordnung. Das vom Theaterhaus Gessnerallee und dem Theater Neumarkt produzierte Nachwuchsfestival Hope and Glory in Zürich ermöglicht jeweils ein ganz ähnliches Wohlbefinden.

Das Guttun kommt von der plötzlichen Übersicht: fünf Theaterproduktionen, knapp zwei Wochen, eine Generation. Und beinahe ein Geschlecht nur. Waren im letzten Jahr nur Regisseurinnen eingeladen, stand es dieses Jahr nur noch vier zu eins für die Frauen. Doch während 1999 vorwiegend Frauenthemen ohne großes Aufheben in anregende Erzählformen verpackt wurden, zeigte Hope and Glory 2000 zu drei Fünfteln eine Art Backlash. Die Befragung von Echtheit oder Entfremdung im Theater und in jungen Biografien ergab Anworten, wie sie in ästhetischer Hinsicht die Studiobühnen von Stadttheatern auch liefern. Was freies, was etabliertes Theater sei, wurde kaum mehr gefragt. Nicht etwa weil die Unterschiede verschwinden, sondern im Gegenteil, weil wieder klar ist, wo Gott hockt. Auf neuen Intendantenstühlen nämlich, deren Zuarbeiter wiederum gehört haben, dass Gott auch mal hinter dem DJ-Pult stehen kann.

Regisseurin Michela Gösken lässt Falk Richters Erfolgsstück „Gott ist ein DJ“ folglich in einem Technokeller zur Schweizer Erstaufführung kommen. Sie und Er, Ex-TV-Talkerin und DJ, labern virtuos über die Inszeniertheit ihres Lebens und werden bei der Zürcher Premiere tatsächlich live ins Netz übertragen.

Äußerlich unterscheidet die Pressemappe nichts vom PR-Material des größten Schweizer Internet-Providers, der später eine Diskussion zum Thema „Verkauft die Kunst durch Sponsoring ihre Glaubwürdigkeit?“ gleich selbst initiieren und erneut ins Web speisen wird. Bei so viel Transparenz bleibt wenig Platz für Interpretation. Der Entschlüsselung harrt einzig, warum die Regisseurin Richters schlauen, zwischen Schwach- und Tiefsinn lavierenden Text lange Zeit als authentische Chill-out-Recherche behaupten will.

Von Verlierern, Sex und von harten Mannen handelt Conor McPhersons „Salzwasser“, das Barbara-David Brüesch im Neumarkt-Theater inszenierte. In einer sehr schicken, roten Plüschbar samt filmecht abgefuckter Band (mit dem schillernden Berliner Gitarristen Michael Rodach) erzählen Joe, Ray und Frank von kleinen Abenteuern und landen gegen Ende den großen Coup. Wie Brüesch aus den einzelnen Erzählstimmen doch noch Szenisches zu gewinnen versteht, beeindruckt zumindest technisch. Erneut aber verwirrt die Behauptung von Authentizität: Das Publikum muss die trendy Lounge bevölkern, kriegt dabei aber nichts zu trinken, während uns irische Machos ihre schweren Nöte verraten, die höchstens skurril sind.

Nach den zeitgenössischen well-made plays erstaunte dann der dritte männliche Textlieferant. Anina La Roche, die Rainer Werner Fassbinders „Blut am Hals der Katze“ schon in Hamburg auf Kampnagel zeigen konnte, will den sprachkritischen Text verteidigen. Das außerirdische Wesen Phoebe schaut den emotional verkümmerten Erdlingen aufs Maul und legt in der naiven Reproduktion unserer Sprache deren floskelhaften, verstümmelnden Charakter frei. Auf der großen Bühne der Gessnerallee verpufft die ungebrochene Kritik schnell – trotz kluger Papierdramaturgie.

Neben den textdemütigen und stadttheatertauglichen Abenden ließen zwei Produktionen auf einen Ausblick aus der Live-Art-Ecke hoffen. „Boxerinnen“ von Gudrun Herrbold und Susann Sitzler sollte ebensolche zeigen, verschenkte die erst spät entwickelte kämpferische Präsenz aber an abbildenden Gender- und Erinnnerungskitsch mit kleinen Ballettmädchen, die sich als Boxerinnen aus den Geschlechterfesseln befreien wollen.

Albert Liebl und seine Gruppe Schauplatz werden hingegen weder von Kunstgewerbe noch Aufrichtigkeit umgetrieben. Ihre Konferenz in radebrechendem Englisch, „Everest 96 – the Summit“, verhandelt die tragischen Tage im Mai 1996, als am Mount Everest binnen zwei Tagen acht Menschen starben. In Analogie zur Besteigung gerät die Runde selbst in die dünne Höhenluft des Dokumentierens (Folien, Vorträge, Expertenstimmen), wo der Absturz des Faktischen ins Lächerliche und der Tod der verbürgten Erzählung drohen.

Es waren die gescheitesten, sicher die witzigsten siebzig Minuten des Festivals. Vielleicht bezeichnend: Die meisten SchauspielerInnen sind selbst passionierte Bergsteiger – worauf oft mehr Zeit verwendet wurde als aufs Proben – nur wollen sie uns dies nicht ständig wissen lassen. Findet Authentizität womöglich doch nicht auf der Oberfläche statt?

„Boxerinnen“ läuft vom 17. bis zum 19. Mai im Podewil in Berlin