„Der Islam ist eine säkulare Religion“

Fromm unter Fanatikern: Vor fünf Jahren wurde der ägyptische Koranforscher Nasr Hamid Abu Zaid von einem Gericht des Unglaubens bezichtigt, seitdem lebt er im Exil. Ein Gespräch über Religion und Reformation in der islamischen Welt und die Rolle des Westens

taz: Herr Abu Zaid, seit Jahren prozessieren Sie gegen ein Gerichtsurteil, das Sie des „Abfalls vom Glauben“ bezichtigt. Warum gibt es so wenig Fortschritte in Ihrem Fall?

Abu Zaid: Der Fall ist sehr knifflig. Dem Gesetz nach gibt es eigentlich kein solches Delikt – nur in der Verfassung gibt es eine Bestimmung, nach der islamisches Recht in bestimmten Fällen als Grundlage für Entscheidungen herangezogen werden darf. Meine Anwälte verfolgen den Fall, aber die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam.

Würden Sie nach Ägypten zurückkehren, wenn man Sie öffentlich rehabilitierte?

Es würde mir schon reichen, wenn die Universität sich hinter mich stellen würde. Persönlich bekomme ich viel Unterstützung, auch aus dem Kollegenkreis. Aber öffentlich traut sich keiner, mich auf meine Stelle zurückrufen.

In Ihrer Biografie erzählen Sie, dass Sie in Ihrer Jugend mit den Muslimbrüdern sympathisierten. Können Sie Ihre Gegner deswegen ein wenig verstehen?

Die religiösen und sozialen Aktivitäten der Muslimbrüder in unserem Dorf haben jedes Kind mit einbezogen. Als ich anfing zu lesen, habe ich die Literatur der Muslimbrüder verschlungen, und ich verfolge ihren Diskurs bis heute – seine Entwicklung von der Idee einer islamischen Reformation über die Propagierung des sozialen Umsturzes bis zur Befürwortung von Gewalt. Heute ist das mehr ein politischer als ein intellektueller Diskurs.

Was mich damals angezogen hat, war die Idee, den Islam wieder zu einer sozialen Kraft zu machen – Menschen zusammenzubringen unter dem Konzept der Bruderschaft. Wenn einem Bauer ein Tier verstarb, dann sammelten alle anderen im Dorf, um ihm ein neues zu kaufen, und das schloss auch die Nichtmuslime mit ein. Für mich ist das die Rolle, die Religion in einer modernen Gesellschaft spielen sollte. Jemanden, der älter war als ich und in der sozialen Hierarchie über mir stand, als Bruder anzureden – dieses demokratische Element hat mich an den Muslimbrüdern fasziniert. Ich habe mich abgewendet, als sie zu verurteilen begannen, um zuletzt die ganze Gesellschaft als ungläubig abzulehnen. Mit der Ablehnung des anderen begann der Extremismus.

Des Unglaubens bezichtigt werden muss Ihnen doch völlig paradox erscheinen ...

Ja, aber es passiert ständig. Die einfachste Art, jemanden in einer islamischen Gesellschaft zu diskreditieren, ist, ihn als Apostat zu bezeichnen. Aber es ist Ausdruck einer Unfähigkeit zur Debatte. Paradox ist aber auch: Sie wollten mich zum Schweigen bringen, aber ich erreiche jetzt mehr Leute als je zuvor. Das nagt an ihnen.

Hat Ihr Glaube nicht gelitten dadurch, dass er sich so leicht instrumentalisieren lässt?

Nein, weil ich absolut davon überzeugt bin, dass meine Gegner im Irrtum sind. Wenn jemand mit einem Messer einen Menschen umbringt, sollen wir deswegen alle Messer ablehnen?

Können Sie denn so einfach zwischen Religion und Ideologie trennen?

Ich kann leicht differenzieren. Und ich bin stolz darauf, mir meinen Islam erhalten zu haben inmitten dieser grotesken Situation. Die Kommunikation mit Gott steht für mich an erster Stelle. Auch wenn dieser Gedanke nicht so akzeptiert ist in der islamischen Welt: Wenn du mit deinem inneren Selbst in Kontakt stehst, bist du in Kontakt mit dem ganzen Universum. Ich spreche von der mystischen Erfahrung, die im Zentrum von allem ist.

Was bedeutet für Sie: „Der Koran ist heilig“?

Der Koran ist eine Botschaft Gottes an den Menschen und damit etwas zwischen einem Sender und einem Empfänger. Letzterer spielt eine zentrale Rolle, weil er den Code verstehen muss. Sein Verständnis ist abhängig von der jeweiligen Zeit, und wir müssen daher den historischen Kontext der Offenbarung und ihrer Interpreten beachten.

Es war nicht meine Absicht, mit meiner Arbeit jemanden zu bedrohen, aber manche Leute haben sich angegriffen gefühlt. Es geht schließlich um handfeste politische Interessen, Macht und Geld – nicht um Gott. Die Suche nach einer zeitgemäßen Auslegung der Quellen wirft viele Fragen auf, etwa was die Rolle der Frau und die Stellung der Nicht-muslime im Koran betrifft. Solch ein Diskurs berührt viele Interessen – das Monopol der Al-Azhar-Universität (islamische Hochschule in Kairo und geistlicher Mittelpunkt des sunnitischen Islam, d. Red.) über theologische Fragen, die Praktiken so genannter islamischer Banken und Geldinstitute oder Institutionen in Mekka und Islamabad, die an einer Islamisierung der Wissenschaft arbeiten. Er bedroht den politischen Islam und die diktatorischen Regime, die sich des Islams zur Legitimation ihrer Systeme bedienen.

Hängt die Aufregung um Ihre Bücher auch mit der verwendeten wissenschaftlichen Sprache zusammen?

Es ist schwierig, „Semantik“ ins Arabische zu übersetzen oder den Begriff der „Hermeneutik“. Aber einer meiner Hauptgegner ist ein Linguist. Es gibt auch den Vorsatz, mich misszuverstehen. Gadamer und Heidegger sind im akademischen Umfeld in Ägypten schließlich nichts Neues – außer in den Koranstudien, dort herrscht der traditionalistische Ansatz vor. Das liegt an der Hegemonie der Al-Azhar auf diesem Gebiet. Ich wollte nur einen interdisziplinären Ansatz verfolgen.

Würden Sie sich als Säkularisten bezeichnen?

Ja, auch wenn das Wort im arabischen Diskurs vermieden wird, weil es oft mit Atheismus gleichgesetzt wird. Es klingt vielleicht wie ein Widerspruch, aber ich denke, der Islam ist eine säkulare Religion. Aus dem Koran spricht eine Abneigung gegen religiöse Autoritäten, und die Betonung liegt auf dem Individuum.

Gäbe es eine öffentliche Diskussion, könnte man darüber reden – aber dafür gibt es keine Plattform. Was die Menschen in Ägypten über Religion wissen, erfahren sie durch Medien, die von der Regierung kontrolliert werden, und in den Moscheen, wo die Islamisten großen Einfluss haben. Über mein Buch können sich die Menschen keine eigene Meinung bilden, sie hören nur von den Anschuldigungen.

Letzten September war ich Gast in einer TV-Show im Libanon, die auch in Ägypten ausgestrahlt wird. Das war das erste Mal, dass man mich dort im Fernsehen hören konnte, und die Reaktion war enorm. Bücher allein sind kein Massenmedium in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung aus Analphabeten besteht und von der anderen Hälfte die Mehrheit keine Bücher liest.

Alle arabischen Staaten akzeptieren heute den freien Markt der Güter – warum nicht auch den freien Markt der Meinungen? Eine Debatte allein unter Intellektuellen reicht nicht, wir müssen die Öffentlichkeit mit einbeziehen. Es braucht dafür ein wirklich breites Forum, das fördert die Bereitschaft zum Dialog.

Das Problem ist nicht Islam und Demokratie, das Problem sind die Mehrheit der Muslime und ihr Verhältnis zur Demokratie. Viele Gruppen sprechen über Demokratie, aber sie glauben nicht daran. Man begreift sich als Teil eines Lagers, nicht als Teil der Gesellschaft.

Manche meinen, ein demokratischer Islam, ein Euro-Islam, könnte am ehesten im Westen gedeihen ...

Ich denke, diese Debatte muss in der islamischen Welt geführt werden. Vielleicht ist der Libanon ein Ort dafür. Oder der Iran, dort findet innerhalb eines islamischen Rahmens eine viel versprechende Diskussion statt.

Welche Rolle spielt der Westen bisher in diesem Prozess?

Eine sehr negative. Der Westen wirft die Frage nach der Freiheit nur dann auf, wenn es seinen Interessen nützt. Niemand fragt nach den Menschenrechten in Saudi-Arabien, und man schwieg zum Putsch in Algerien nach dem Wahlsieg der Islamisten.

Auf CNN verfolgt derzeit ganz Amerika das Schicksal eines kubanischen Jungen. Aber was ist mit den Kindern im Irak, deren Tod in Kauf genommen wird, weil man Saddam Hussein mit einem Embargo schwächen will? Wie kann man zu hungernden Menschen von Freiheit reden? Neulich sah ich einen TV-Bericht von der Hungersnot in Äthiopien und kurz darauf Bilder von einer Party im Londoner Millenniumdome, wo mit Torten geworfen wurde. Man muss sich nur ausmalen, wie diese Bilder in der Dritten Welt wirken. Es braucht die Verteufelung durch die Islamisten gar nicht – der Westen selbst produziert diese Bilder von sich.

Obwohl Ihr Fall anders gelagert ist, hat man ihn oft mit Salman Rushdie verglichen. Was halten Sie von seinen „Satanischen Versen“?

Mir persönlich hat der Roman nicht besonders gefallen. Ich bin kein Literaturkritiker, aber ich finde, er war etwas zusammenhanglos. Das letzte Kapitel, in dem er Bezug nimmt auf Ajatollah Chomeinis Exilzeit in Paris und das ihm wohl den ganzen Ärger eingebracht hat, wirkt angehängt.

Dass er sich koranischer Bilder bedient hat, stört Sie nicht?

Bilder und Zitate aus dem Koran werden in allen erdenklichen Zusammenhängen benutzt – nicht alle Aysas sind Mohammeds Ehefrau, und „Allah“ sagt man auch, wenn man ein hübsches Mädchen sieht. Ein Koranzitat muss immer in seinem Kontext beurteilt werden – sonst müssten wir aufhören, die arabische Sprache zu benutzen.

Interview: DANIEL BAX