Katharsis oder Siechtum

Jahrzehntelang galt in Österreich die Devise, den braunen Bodensatz nur nicht umzurühren. Doch die zugrunde liegende „Mir san mir“-Identität weist seit dem Beitritt zur EU deutliche Risse auf
von RIVKA RICHTERICH

Seit drei Monaten ist die schwarzblaue Koalition nun in Österreich an der Regierung. Und jeden Tag neu überrascht sie mit Peinlichkeiten. Die Außenministerin, Benita Ferrero-Waldner, lädt sich quasi selbst zur Eröffnung der EU-Beobachtungsstelle gegen Rassismus in Wien ein, der Kanzler fordert im Parlament den rot-weiß-roten Schulterschluss gegen das ungerechte Ausland, Haider und seine burgenländischen Mannen drohen mit dem Austritt Österreichs aus der EU. Aber damit nicht genug: Die Superintendentin der evangelischen Kirche und ihre Familie werden massiv in anonymen Schreiben an Leib und Leben bedroht. Sie forderte rigoros demokratische Werte für Schwache und Minderheiten ein.

Immer noch fragen sich die meisten Österreicher, wie es zu dieser Koalition kommen konnte. Herr Schüssel versprach seinen Wählern, als drittstärkste Partei in die Opposition zu gehen. Es kam ganz anders. Jahrzehntelang galt die Devise, den braunen Bodensatz nur nicht umrühren. Jahrzehntelang wurden Stege über den Sumpf gebaut und so getan, als ob darunter gar kein Sumpf liege. Staatskünstler und andere kamen damit gut, ja hervorragend zurecht. Für jeden wachen Geist wirkte sich dieses unausgesprochene Einvernehmen extrem lähmend aus. Jetzt sind die Stege weggespült, und es brodelt sicht- und hörbar. Dabei hat der blaue Jörgl doch nur seinen Leuten aus der Seele gesprochen.

Schuldzuweisungen gibt es zuhauf, aber sie entpuppen sich als leicht durchschaubarer Versuch, Täter- und Opferrolle zu vertauschen. Psychiater und Analytiker attestierten der österreichischen Seele schon lange, allzu lange, chronische Krankheiten – wie Verdrängungssucht, Realitätsverlust oder Depressionsneigung. Drinnen und Draußen wird säuberlich oder auch nicht säuberlich, jedenfalls um jeden Preis getrennt. An der Fassade des Hauses Österreich wurde unermüdlich geputzt und gescheuert, aber schon im Treppenhaus roch es nach der „g’schminkten Leich“. Austria-Klischees in allen Facetten wurden produziert, den „anderen“ zuliebe: Gemütlichkeit, Heurigenseligkeit, das süßlich zuvorkommende Lächeln, gnädige Frau, sehr wohl der Herr, kurz: eine Nation zu Diensten.

Versteckt wurde und wird der sadomasochistische Zug, der fast kollektive Ausmaße annimmt: mangelndes Selbstwertgefühl, das bis zum Mord, Rufmord oder Selbstmord reicht. Dann die analen Seiten der Mentalität: Neid auf Leistung, Misstrauen gegenüber dem, was aus dem Rahmen der Hierarchie fällt oder nicht einheimisch anmutet. Nicht umsonst hat sich Sigmund Freud mit der Analyse der Verdrängungsmechanismen in dieser Stadt abgeplagt. Als er dann ins Exil musste, war offenbar vielen leichter. Ein Foto, aufgenommen während seiner Flucht, das ihn am offenen Zugfenster zeigt, wurde vor ein paar Jahren als touristische Werbung mit dem Slogan „Welcome to Vienna/Willkommen in Wien“ verbreitet und erst nach Bekanntwerden der Umstände aus dem Verkehr gezogen. Nicht umsonst hätte der Psychiater Erwin Ringel die ganze Nation gern auf der Couch gewusst. Seit seinem Tod ist er aus den Medien verbannt, wie übrigens auch Axel Corti, einer der wenigen Kulturschaffenden, der ohne katholisch gefärbte Nabelschau und ohne Selbstzerfleischung Vergangenheit aufzuarbeiten imstande war.

Der Übergang vom Naziregime zu vordemokratischen Bewusstseinsstrukturen ist nahtlos vollzogen worden, das Braune wurde bis zum Äußersten verleugnet, war bis „Mr. Watchlist“ (Waldheim) nie expliziter Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Jahrzehntelang galt die Devise des Ignorierens nationaler Verantwortung für die Shoah. Ein beleidigtes, trotziges „Jetzt erst recht“ war häufig genug die Antwort auf die Frage nach der wenig rühmlichen Rolle dieses Landes als Gehilfe und Vollstrecker der Hitlerschen Rassenideologie. Zunächst war ja auch der Versuch geglückt, durch das Hintertürchen der Geschichte unbehelligt zu entkommen. Die Beteuerungen der eigenen Unschuld wurden spätestens seit dem Beitritt der Republik zur Europäischen Union 1995 sukzessive als unhaltbar enthüllt.

Dieser Beitritt war für Österreich ein erschwerender Faktor in Sachen Identität. In den Köpfen existierte offenbar nur die Trennung zwischen Inland und Ausland, aber Europa als gemeinschaftlicher Denk- und Lebensraum existierte bis dahin nicht. Österreich entpuppte sich nach dem Beitritt zwar als Musterschüler schlechthin: Nettozahler, Rekordantragsteller für Subventionen, kooperativ und vermeintlich versiert auf internationalem Parkett. Die Realität hinkte freudlos und misstrauisch hinterdrein. Es fehlt und fehlte einerseits das Selbstverständnis der eigenen Kultur, abseits der glücklichen Kühe und der schillernden Opernball-Aura, andererseits die Selbstverständlichkeit im alltäglichen Umgang mit Nichteinheimischen.

Je intensiver die Kontakte zu verschiedenen internationalen Gruppen wurden, umso vermeintlich selbstbewusster trat man auf. Andererseits merkten die fremden anderen langsam, was hier auseinander klafft: Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit. Je mehr die mühsam errichtete Fassade der „Mir san mir“-Identität zu bröckeln begann, desto heftiger wurde Kritik abgewehrt, ein zäher Rechtfertigungsdiskurs anstelle offener Diskussion geführt. Geschehenes Unrecht wurde als Erfindung der anderen abgewiesen: „Gehn’s, gnä Frau, san’s ma net bös, schaun Sie sich die andern an, no, und de Juden erst, de san a net besser.“ Fassungslos und bösartig wurde der Dialog erst dann, wenn das Wort Nazi darin vorkam: „Frech san’s a no, de Ausländer.“

Die Fragen der jungen Menschen wurden durch Schweigen oder brutale Strafgerichte (etwa auf Holzscheiten oder Erbsen knien) in Kirche, Schule, Elternhaus erstickt, die Auswirkungen sind bis heute spürbar: Mangel an Neugierde, Angst-, Schuld- oder Rechtfertigungsmuster. Aufklärung über die Rolle Österreichs in der Nazizeit in den Schulen ist – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – immer noch mehr als dürftig, von innerfamiliären Diskussionen ganz zu schweigen.

Da kam der blaue Jörgl gerade recht zum Identitätstiften. Seine Wahlslogans wie „Stopp der Überfremdung“ oder flotte Sprüche von den „fleißigen und anständigen Österreichern“ waren Balsam auf die zunehmend gemarterte österreichische Seele im europäischen Kontext. Sehe ich mir die maßgeblichen Künstler in diesem Lande an, so ist das Bild geprägt von weit überschätzten Zugpferden und sich selbst zugrunde richtenden Verweigerern. Das Gefühl gesellschaftlicher Verantwortung will bei den meisten nicht so recht aufkommen. Die zuweilen großartig artikulierte Befindlichkeit ist immer noch oberstes Gebot. Parteibuch- und Freunderlwirtschaftsexperten geben für Karriere und Subventionen so schnell nicht auf. Vom europäischen Gesichtspunkt aus betrachtet, wurde hier am 4. Februar Lunte gelegt. Nun geht es darum, Nachahmer zu verhindern und den Schwelbrand nicht zu verharmlosen. Die Lunte löschen ist wahrlich Sache der ÖsterreicherInnen.

Zitate:Der blaue Jörgl hat doch nur seinen Leuten aus der Seele gesprochen„Schaun Sie sich die anderen an, und die Juden erst, de san a net besser“