Ein Gerücht namens Erich

Sie sind überall. Vor allem in der Hauptstadt, in allen Bezirken. In Frisörsalons. Warten an Straßenbahnhaltestellen. Kaufen in Bäckereien. Oder lassen sich in Kaufhäusern bedienen. Manche sind als Killer unterwegs. In nichts sind sie von eingeborenen Deutschen zu unterscheiden: Menschen, die vor zehn Jahren als Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland kamen. Ein Bericht

von WLADIMIR KAMINER

Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Erich Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf. Eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. Die vielen fliegenden Händler, die Woche für Woche aus Moskau nach Westberlin und zurück flogen, um Geschäfte zu machen, brachten diese Nachricht in die Stadt. Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht, der ja längst abgesetzt war. Doch die Russen sagten immer noch „Honecker“, wenn es um die DDR ging.

Normalerweise versuchten die meisten Menschen in der Sowjetunion, ihre jüdische Vorfahren zu verleugnen, nur mit einem sauberen Pass konnte man auf eine Karriere hoffen. Die Ursache dafür war nicht der Antisemitismus, sondern einfach die Tatsache, dass jeder verantwortungsvolle Posten mit einer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei verbunden war. Und Juden hatte man ungern in der Partei.

Das ganze sowjetische Volk trappelte im gleichen Rhythmus – von einem Arbeitssieg zum nächsten, keiner konnte aussteigen, es sei denn, man war Jude. Als solcher durfte man (rein theoretisch) nach Israel auswandern. Wenn das ein Jude machte, war es – fast – in Ordnung. Doch wenn ein Mitglied der Partei einen Ausreiseantrag stellte, dann standen die anderen Kommunisten aus seiner Einheit blöde da.

Mein Vater zum Beispiel kandidierte viermal für die Partei – und fiel stets durch. Er war zehn Jahre lang stellvertretender Leiter der Abteilung Planungswesen in einem Kleinbetrieb und träumte davon, eines Tages Leiter zu werden. Dann hätte er insgesamt 35 Rubel mehr gekriegt. Aber einen parteilosen Leiter der Abteilung Planungswesen konnte sich der Direktor nur in seinen Albträumen vorstellen. Das ging überhaupt nicht, weil der Leiter jeden Monat über seine Arbeit auf der Parteiversammlung im Bezirkskomitee berichten musste. Wie sollte er da überhaupt reinkommen – ohne Mitgliedsausweis?

Mein Vater trank mit den Aktivisten literweiße Wodka, schwitzte sich mit ihnen in der Sauna zu Tode, aber alles war umsonst. Jedes Jahr scheiterte sein Vorhaben: „Wir schätzen dich sehr, Wiktor, du bist für immer unser dickster Freund“, sagten die Aktivisten. „Wir hätten dich auch gerne in die Partei aufgenommen. Aber du weißt doch selbst, du bist ein Jude und kannst jederzeit nach Israel abhauen.“ Mein Vater erwiderte nur: „Aber das werde ich doch nie tun.“ Und bekam zur Antwort: „Natürlich wirst du nicht abhauen, das wissen wir alle, aber rein theoretisch wäre es doch möglich.“ Auf diese Weise blieb mein Vater für immer ein Kandidat.

Die neuen Zeiten brachen an: Die Juden, die früher an die Miliz Geld zahlten, um das Wort „Jude“ aus ihrem Pass entfernen zu lassen, fingen an, für das Gegenteil Geld auszugeben. Alle Betriebe wünschten sich auf einmal einen jüdischen Direktor – nur er konnte auf der ganzen Welt Geschäfte machen. Viele Leute verschiedener Nationalitäten wollten plötzlich Juden werden – und nach Amerika, Kanada oder Österreich auswandern. Deutschland-Ost war so etwas wie ein Geheimtipp.

Ich bekam den Hinweis vom Onkel eines Freundes, der mit Kopiergeräten aus Westberlin handelte. Einmal besuchten wir ihn in seiner Wohnung, die schon leer geräumt war, wegen der baldigen Abreise der ganzen Familie nach Los Angeles. Nur ein großer Fernseher mit eingebautem Videorekorder stand noch mitten im Zimmer auf dem Boden. Der Onkel lag auf einer Matratze und kuckte sich deutsche Pornofilme an.

„In Ostberlin nimmt Honecker Juden auf. Für mich ist es zu spät, die Richtung zu wechseln, ich habe schon alle meine Millionen nach Amerika abtransportiert“, sagte er zu uns. „Doch ihr seid jung, habt nichts – für euch ist Deutschland genau das Richtige, da wimmelt es nur so von Pennern. Sie haben dort ein stabiles soziales System. Ein paar Jungs mehr werden da nicht groß auffallen.“

Es war eine spontane Entscheidung. Außerdem war die Emigration nach Deutschland viel leichter als eine nach Amerika, die Fahrkarte kostete nur 96 Rubel. Mein Freund Mischa und ich kamen im Sommer 1990 am Bahnhof Lichtenberg an. Die Aufnahme verlief damals noch sehr demokratisch. Aufgrund der Geburtsurkunde, in der stand, dass unsere beiden Eltern Juden sind, bekamen wir eine Bescheinigung in einer extra dafür eingerichteten Geschäftsstelle beim ostdeutschen Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Damit waren wir in Deutschland als Bürger jüdischer Herkunft anerkannt. Mit dieser Bescheinigung konnten wir einen ostdeutschen Ausweis bekommen. Im Polizeipräsidium lernten wir viele gleich gesinnte Russen kennen – die Avantgarde der fünften Emigrationswelle.

Die erste Welle, das war die Weiße Garde während der Revolution und im Bürgerkrieg, die zweite Welle emigrierte zwischen 1941 und 1945, die dritte, das waren die ausgebürgerten Dissidenten seit den Sechzigerjahren, und die vierte Welle begann mit den über Wien ausreisenen Juden in den Siebzigerjahren.

Die russischen Juden der fünften Welle konnte man weder durch ihren Glauben noch durch ihr Aussehen von der restlichen Bevölkerung unterscheiden. Sie konnten Christen oder Muslime oder gar Atheisten sein, blond, rot oder schwarz, mit Stups- oder Hakennase. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie laut ihres Passes „Juden“ hießen. Es reichte, wenn einer in der Familie Jude war und es nachweisen konnte.

In der Gruppe der ersten hundert, die nach Deutschland kamen, waren alle möglichen Leute – ein Chirurg aus der Ukraine mit Frau und drei Töchtern, ein Bestattungsunternehmer aus Wilna, ein alter Professor, der für die Sputniks die Metallaußenhülle zusammengerechnet hatte und das jedem erzählte, ein sibirischer Opernsänger, ein früherer Polizist sowie eine Menge junger Leute, „Studenten“ wie wir. Man errichtete für uns ein großes Ausländerheim in drei Plattenbauen von Marzahn, die früher der Stasi als Erholungszentrum gedient hatten. Dort durften nun wir uns bis auf weiteres erholen.

Die ersten kriegen immer das Beste. Nachdem sich Deutschland endgültig wieder vereinigt hatte, wurden die neu angekommenen Juden gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt. Zwischen Schwarzwald und Thüringerwald, Rostock und Mannheim. Jedes Bundesland hatte eigene Regeln für die Aufnahme.

Wir bekamen die wildesten Geschichten in unserem gemütlichen Wohnheim zu hören. In Köln zum Beispiel wurde der Rabbiner beauftragt, festzustellen, wie jüdisch diese neuen Juden wirklich waren. Ohne ein von ihm unterschriebenes Zeugnis lief gar nichts. Der Rebbe befragte eine Dame, was Juden zu Ostern essen. „Gurken“, sagte die Dame, „Gurken und Osterkuchen.“ – „Wie kommen sie auf Gurken?“, regte sich der Rebbe auf. „Ach ja, ich weiß jetzt, was Sie meinen“, strahlte die Dame, „wir Juden essen zu Ostern Mazze.“ – „Na gut, wenn man es ganz genau nimmt, essen die Juden Mazze das ganze Jahr über und auch mal zu Ostern. Aber wissen Sie überhaupt, was Mazze ist?“ – „Sicher“, freute sich die Frau, „das sind doch diese Kekse, die nach altem Rezept aus dem Blut von Kleinkindern gebacken werden.“ Der Rebbe fiel in Ohnmacht.

Manchmal beschnitten sich irgendwelche Männer sogar eigenhändig, nur um solche Fragen zu vermeiden. Wir hatten das alles nicht nötig – als die Ersten in Berlin. Manche Bewohner unseres Heims dachten, das kann doch nicht gut ausgehen, und fuhren wieder nach Russland zurück. Keiner konnte damals verstehen, wieso uns ausgerechnet die Deutschen derart durchfütterten.

Mit den Vietnamesen zum Beispiel, deren Heim auch in Marzahn stand, war alles klar. Sie waren die Gastarbeiter des Ostens, aber die Russen . . . Vielleicht war es bei den ersten Juden im Polizeipräsidium am Alex nur ein Missverständnis, ein Versehen gewesen – und nun wollten die Beamten es nicht zugeben und machten brav weiter? So ähnlich wie mit dem Fall der Mauer? Jedoch, wie alle Träume ging auch dieser zu Ende.

Nach sechs Monaten schon wurden keine Aufnahmen mehr vor Ort zugelassen. Man musste in Moskau einen Antrag stellen und erst mal ein paar Jahre warten. Danach wurden Quoten eingeführt. Gleichzeitig wurde hinterher per Beschluss festgelegt, dass alle Juden, die bis zum 31. Dezember 1991 eingereist waren, als Flüchtlinge anerkannt werden und alle Rechte eines Bürgers genießen sollten. Aus diesen Juden und aus den Russlanddeutschen bestand die fünfte Welle. Alle anderen Gruppierungen – die russischen Ehefrauen oder Ehemänner, die russischen Wissenschaftler, die russischen Prostituierten sowie die Stipendiaten – bilden zusammen nicht einmal ein Prozent von meinen hier lebenden Landsleuten.

Wie viele Russen gibt es in Deutschland? Der Chef der größten russischen Zeitung in Berlin spricht von drei Millionen. Und 140.000 allein in Berlin. Er ist aber nie richtig nüchtern, deswegen schenke ich ihm keinen Glauben. Er hat auch schon vor drei Jahren „drei Millionen“ gesagt. Aber es stimmt schon – die Russen sind überall. Da muss ich dem alten Redakteur Recht geben, es gibt eine Menge von uns, besonders in Berlin.

Ich sehe Russen jeden Tag auf der Straße, in der U-Bahn, in der Kneipe. Eine der Kassiererinnen im Supermarkt, in dem ich einkaufen gehe, ist eine Russin. Im Frisörsalon ist auch eine. Ebenso die Verkäuferin im Blumenladen. Der Rechtsanwalt Juri Grossman, auch wenn man es bei dem kaum glauben mag, ist ursprünglich aus der Sowjetunion gekommen, so wie ich vor zehn Jahren.

Gestern in der Straßenbahn unterhielten sich zwei Jungs ganz laut auf Russisch, sie dachten, keiner versteht sie. „Mit einem 200-mm-Lauf kriege ich das nicht hin. Er ist doch ständig von vielen Menschen umgeben.“ – „Dann solltest du einen 500er nehmen.“ – „Aber ich habe noch nie mit so einem gearbeitet!“ – „Gut, ich rufe morgen den Chef an und bestelle eine Gebrauchsanweisung für den 500er. Ich weiß aber nicht, wie er reagieren wird. Besser, du versuchst es mit dem 200er. Man kann es doch noch einmal probieren!“ – Man kann.

WLADIMIR KAMINER, 33, ist in Moskau aufgewachsen und lebt seit zehn Jahren in Berlin. Er schreibt für die taz und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Im August erscheint bei Bertelsmann in der Reihe „Manhattan“ sein erstes Buch: „Russendisko“.