Domizil in der Lava

Straumur, einst der älteste Hof Islands, ist heute ein Künstlerhaus. Es bietet internationalen Künstlern kostenlos Logis, Ateliers, Inspiration

von BEATE SCHIRRMACHER

„Nach Straumur?“ Der Busfahrer kratzt sich nachdenklich am Hinterkopf. „Tja, da gibt es keinen festen Tarif. Das macht, sagen wir, 150 Kronen.“ Bald darauf lässt er den Motor anspringen, und der Linienbus Reykjavík-Keflavík setzt sich in Bewegung. Nach einer halben Stunde haben wir das Einzugsgebiet Reykjavíks, in dem mit 150.000 Einwohnern gut die Hälfte aller Isländer lebt, hinter uns gelassen. Ein weites Lavafeld beginnt. Im Hintergrund steigen schroff die Berge auf, die das Gestein einst ausgespieen haben. Eine Mondlandschaft. Nicht umsonst probte die NASA die Mondlandung auf Island.

In diesem Lavafeld liegt Straumur. Auch wenn die Landschaft flach und baumlos ist, verschluckt sie das Gehöft beinahe völlig. Auch den Busfahrer muss ich an unser Abkommen erinnern, sonst wäre er einfach daran vorbeigefahren. Straumur bedeutet Strom, Strömung. Am Strand finden sich die erstarrten Formen zähflüssiger Lava, die hier in den Nordatlantik floss. Unter der erstarrten Lava fließt das Grundwasser, das in den Senken in kleinen Teichen zu Tage tritt. Die Gezeiten heben und senken den Pegel der Seen. Einige verschwinden bei Ebbe ganz. Andere tauchen nicht zu jeder Flut aus dem Untergrund auf. Eine unvorhersehbare Landschaft. Ein Paradies für Wasservögel. Doch welcher isländische Küstenlandstrich ist das nicht?

Dieser Ort ist seit langem besiedelt. Seine Geschichte geht bis ins Mittelalter zurück. Einst war Straumur der größte Hof Islands – obwohl das Schaffutter größtenteils von anderswo herangekarrt werden musste. Das kleine rotweiße Haus, dessen steile Giebel wie die Zacken einer Krone emporragen, stammt aus den 20er-Jahren und wurde von einem der berühmtesten Architekten Islands erbaut. Heute ist es ein Künstlerhaus. Die Ställe sind zu Ateliers umgebaut. Die Farben des Hauses, rot und weiß, gehen Ton und Ton mit den gestreiften Türmen der Aluminiumfabrik auf der anderen Seite der Bucht Straumsvík. Die Türme kann man bis nach Reykjavík sehen.

Ich gehe um das Haus. Die Tür ist abgeschlossen. Seltsam, dabei werde ich erwartet. In den Ateliers finde ich zwei Isländer beim Schweißen. „Den Schlüssel? Den hat Ingibjörg. Die ist gerade auf einem Spaziergang in die Lava. Den Weg entlang, siehst du?“ Ich sehe gar nichts. „Welchen Weg?“ „Einfach den Pfeilern nach.“ Das versuche ich. Allerdings stolpere ich mehr durch die unter der Schneedecke verborgenen Kuhlen. Die Suche nach den Pfeilern gestaltet sich schwierig. Sie verschwinden zwischen Lava und Schnee, zwischen schwarz und weiß. Gleißendes Sonnenlicht, klare Sicht – nur Ingibjörg ist nicht zu sehen. Ich erkenne alte Gehege aus Lavasteinen. Schließlich sehe ich auch die Steinhügel, die neben Holzpfeilern die Wege markieren. Solche Steinhügel wirft niemand um. Zu groß ist der Respekt vor den in mancher Situation lebenswichtigen stummen Wegweisern.

An der Buchtmündung stolpere ich fast über ein paar Rumpfbögen. Beim näheren Hinsehen ist es ein gesamter Schiffsbug. Ein Überbleibsel der Handelsstation, die deutsche Hanseleute hier im 15. Jahrhundert errichteten? Wohl kaum. Doch die Žýskabúšir, die deutschen Schuppen, liegen noch über das Lavafeld verstreut. Als Dänemark im 16. Jahrhundert sein Handelsmonopol durchsetzte, ließen sie die letzten Deutschen in Straumsvík köpfen. Das Skelett, das man vor ein paar Jahren aus der Bucht fischte, könnte dem Alter nach einem der Hanseleute gehört haben.

Und immer noch hat die Bucht deutschsprachige Anknüpfungen. Das benachbarte Aluminiumwerk gehört zum Großteil einem Schweizer Konzern. Schiffe mehr oder weniger vertrauenserweckenden Aussehens laufen in die Bucht ein. Selbst der weiteste Weg scheint sich zu lohnen. Die Unmengen an Strom, die die Aluminiumherstellung verschlingt, gibt es in Island im Überfluss, gewonnen aus Wasserkraft oder Geothermalwärme.

Die Fabrik verbreitet das gleichmäßige Summen eines großen Kühlschranks. Doch sie stört mich kaum. Wie die Straße ist sie willkommenes Zivilisationszeichen in der ansonsten so kompakten Stille des Lavafeldes, die nur die Brandung bei Flut kennt, den Wind über dem Gras. Raben segeln in der Luft, geben kehlige, tiefe Rufe von sich. Im Schnee sieht man die Spuren entlaufener Nerze und Mäusetrippeln, wenn die Katze sie kurzfristig aus dem Haus gejagt hat. Es herrscht dieses seltsame Ineinanderfließen von Natur und Kultur, das ich zum ersten Mal in den Bildern von Islands Nationalmaler Jóhannes Kjarval entdeckt habe. Die Gesichter der von ihm porträtierten Menschen sind wie von Moos und Flechten gezeichnet. In den Lavafeldern seiner Bilder tauchen statt dessen Gestalten auf.

Straumur ist schon lange kein Hof mehr. Der Bildhauer Sverrir Ólafsson stieß 1987 auf der Suche nach einem geeigneten Atelier auf das verfallene Gehöft. Er überredete die Gemeinde Hafnafjöršur, die eigentlich nur auf einen abreißwilligen Spekulanten gewartet hatte, statt dessen die Betriebskosten für ein Künstlerhaus in Straumur zu übernehmen. Er renovierte das Haus, die Stallungen wurden in Ateliers umgewandelt. Im großen Bildhaueratelier erinnert die Ablaufrinne noch an die Vergangenheit als Kuhstall. In fünf Zimmer bietet Straumur Künstlern kostenlos Logis und Arbeitsraum. Aber besonders im Sommer wohnen deutlich mehr als fünf Personen hier. Sofas und Matratzen stehen in allen Ecken der Ateliers. Auch Reykjavíker arbeiten hier tagsüber. Und die Räumlichkeiten bieten Platz für Kurse.

1989 kam der erste Gast. 1999 konnte Straumur 10-jähriges Jubiläum feiern. In dieser Zeit haben hier über 800 Künstler aus 30 Ländern gewohnt. Die isländische Technogruppe GusGus hatte sich hier zur Planung von Filmarbeiten zurückgezogen, nahm dann aber stattdessen ihre erste CD auf. Elena Löwensohn las hier ihr Skript für „Schindlers Liste“. Pierre Restany, intellektueller Pate der Pop-Art-Künstler um Andy Warhol und der japanische Künstler Endo haben hier gewohnt. Und nicht nur im Sommer hat das Haus in der Lava seine Reize. Mitten im Winter, mit höchstens drei Stunden Tageslicht, fand Joachim Fleischer von der Köln-Stuttgarter Ateliergemeinschaft Nord-Süd-Fahrt ideale Arbeitsbedingungen. „Hier muss ich nicht die Nacht zum Tag machen“, sagt Fleischer, der mit Lichtinstallationen arbeitet.

Sverrir taucht erst gegen Abend in seinem Büro auf. Man schlängelt sich durch eine vollgestapelte Garage an Metallstangen, Wagenteilen und einem Stück verrotteten Haifisch – isländische Spezialität – vorbei, dann befindet man sich im Büro. Bücher tapezieren die Wände. Dazwischen hängen Lenin und Che. Auf der Wärmeplatte der Kaffeemaschine dampft der Kaffee zu einer dickflüssigen Suppe ein. Alte Computer, Kabel, irgendwo darunter ein Sofa, ein neuer Computer, mit Internetzugang als Fenster zur Außenwelt. „Das hier“, Sverrir weist mit der mit den Fingern verwachsenen Zigarre um sich, „ist der gesamte Überbau von Straumur. Die Leute rufen an. Ich gebe ihnen die Schlüssel. Der Rest regelt sich von selbst.“

Angeblich soll es hier spuken. Wie überall auf Island. Die Hansedeutschen gehen um, behauptet der Journalist Baldur. Von denen merke ich nichts. Auch Ingibjörg taucht nach ihrem Verschwinden im Lavafeld ganz undramatisch wieder auf und stellt sich als Kinderbuch-Illustratorin vor. Nachts höre ich nur die Mäuse tanzen. Emma aus London behauptet allerdings, jemand habe nachts ihre Tür geöffnet. Das ist Wasser auf Baldurs Mühlen. Er hat bereits ein Medium bestellt, um die Geister austreiben zu lassen, doch da hat Sverrir protestierend eingegriffen. „Meine Geister tun niemandem was zu Leide. Und du lässt sie gefälligst hier wohnen!“

Baldur schreibt Dokumentarfilme und Reportagen fürs Fernsehen. Aus seinem Zimmer tönt wahlweise Wagner oder Bach. „Wagner hat das mit den Stabreimen total missverstanden“, erklärt er. „Er glaubte, er müsse nur irgendwelche gleich klingenden Worte aneinander reihen. Das ist für isländische Ohren grässlich.“

Seit Sverrir das Haus wieder bewohnbar gemacht hat, gibt es auch andere, rentablere Pläne für das skurrile Haus: Ein Schullandheim war angedacht oder, noch besser, ein Restaurant mit Souvenirladen für die Touristen. „Das kommt nicht durch, solange ich noch etwas zu sagen habe“, versichert Sverrir. Sverrir hat andere Zukunftsvisionen für Straumur. „Wenn Reykjavíker Künstler ihre Ateliers nach Straumur, in die umliegenden Hütten, verlagern würden“, erklärt er, „dann könnte hier eine lose zusammengewürfelte Künstlerkolonie, das Zentrum eines Netzwerkes, entstehen.“

Es ist März. Seit Tagen herrscht ruhiges, klares Winterwetter. Doch bei Windstille erreicht die Sonne eine Kraft, die weit über den tatsächlichen Temperaturen liegt. Über Reykjavík am Horizont legt sich ein bräunlicher Schleier aus Abgasen. Wenn die Berge am Horizont dreidimensional erscheinen und irgendwie näher herantreten, dann steigt auch der Berg Snæfellsjökull hervor, der mehrere hundert Kilometer entfernt liegt. Dann schwebt die Eiskappe des Gletschers über den Wassern der Faxaflóibucht. Viele Reykjavíker betrachten den schwebenden Gletscher als Glücksbringer. Jedenfalls bedeutet er Hochdruckwetter. Ein Hoch über Island, das bedeutet Regen und Tief für Europa. So ist es immer.

Information: Straumur International Art Commune v/Rekjanesbraut, P.O. Box 33.222, Hafnafjöršur, Island, Tel.: 3 54-5 65 01 28, Fax: 3 54-5 65 06 55, E-Mail: solart@tv.is, Direktor: Sverrir Ólafsson. Weitere Informationen unter: www.resartis.org/straumur/straumur.html