Roma, die perfekten Opfer

Das größte Problem bei der angestrebten Versöhnung zwischen Roma und Kosovo-Albanern ist die Planlosigkeit der internationalen Verwaltung

von MARK TERKESSIDIS

Nach westlicher Wahrnehmung existierten sie schlichtweg nicht. Immer wenn es in der Berichterstattung über den Kosovo-Krieg im vergangenen Jahr um die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung ging, hieß es: 90 Prozent Albaner, 10 Prozent Serben. Die Roma, eine der größten ethnischen Minderheiten im Kosovo, wurden unterschlagen. Auch heute ist mehr über die Vertreibung der serbischen Bevölkerungsgruppe zu hören als darüber, dass seit dem Einrücken der UN-Truppe KFOR vor einem Jahr über die Hälfte der etwa 150.000 Roma aus dem Kosovo geflohen sind oder „ethnischen Säuberungen“ durch albanische Radikale zum Opfer fielen.

Der überwiegende Teil der kosovarischen Roma floh nach Serbien. Dort allerdings interessieren sich die Behörden in erster Linie für den Zustrom serbischer Flüchtlinge. In den Sammelunterkünften wie etwa der Mehrzweckhalle Pinki im Belgrader Stadtteil Zemun finden deshalb nur wenige Roma Zuflucht. Auf internationale Hilfe können die Roma auch nicht hoffen. Die fließt wegen der Isolation Serbiens nur spärlich. Und so sind die Flüchtlinge auf die Unterstützung der eigenen Leute angewiesen.

Unweit von Belgrad liegt das Städtchen Obrenovac. Von den 50.000 Einwohnern sind 12.000 Roma. Viele von ihnen kümmern sich um die rund 1.000 über die Stadt verteilten Vertriebenen aus dem Kosovo. Die Einheimischen suchen Unterkünfte, bringen Möbel, Kleidung und Essen. Eine Familie hat im Pförtnerhäuschen einer ausrangierten Fabrik Zuflucht gefunden: Auf neun Quadratmetern leben hier elf Menschen.

Die Geschichten der Flüchtlinge ähneln sich. Eine Frau berichtet, ihre Familie habe in der Ortschaft Urosevac im Südosten des Kosovo ein zweistöckiges Haus besessen. Im Spätsommer 1999 seien Albaner in ihr Haus gekommen, hätten sie bedroht und von ihr verlangt, die Gegend zu verlassen. Sie habe sich geweigert.

Wenige Tage später seien dann andere Albaner gekommen, auch welche aus Albanien. Sie hätten das Haus der Familie verwüstet und ihrer Tochter die Kehle durchgeschnitten. Nach dem Mord seien dann US-amerikanische KFOR-Soldaten in den Ort eingerückt und hätten das Haus geschützt. Doch nach zwei Tagen seien die Soldaten wieder abgezogen. Daraufhin sei sie geflüchtet.

In Obrenovac kümmern sich auch Mitglieder der Belgrader Roma-Kongress-Partei um die Flüchtlinge. Der Parteivorsitzende Dragoljub Acković hält die Vertreibungen für organisiert. Die Roma würden ebenso wie die Kosovo-Serben von den albanischen Extremisten angegriffen, weil die meisten weiterhin die Zugehörigkeit des Kosovo zur Republik Jugoslawien befürworteten. Obwohl es im Staatenbund zweifelsohne Diskrimierung gab, betrachtete der Großteil der Roma diesen als Garant für rechtliche und soziale Sicherheit. Viele Roma haben deshalb Slobodan Milošević’ Partei SPS gewählt. Acković ist überzeugt, dass die Mehrheit der Kosovo-Albaner die Vertreibungen unterstützt oder zumindest toleriert hat.

Auch in der Belgrader Organisation Fund for Humanitarian Law gilt es als wahrscheinlich, dass die Vertreibungen keine Anhäufung von Einzelfällen sind. Die Stiftung hat mittlerweile 1.800 Berichte von geflohenen Roma gesammelt. Dabei zeigte sich, dass bestimmte Orte im letzten Juni planmäßig „gesäubert“ wurden: etwa das südliche, heute als „albanisch“ bezeichnete Kosovska-Mitrovica. Die Roma wurden als Erste angegriffen, dann erst die verbliebenen Serben. Anstatt die vermeintlichen Aggressoren direkt anzugreifen, stürzten sich die albanischen Nationalisten auf jene, die sie als deren schwächere Helfershelfer betrachteten. Immer schon hatte ein beträchtlicher Teil der Albaner auf die „Zigeuner“ herabgesehen. Die nun schutzlosen Roma seien daher ein perfektes Opfer gewesen, meint der Anwalt des Fund for Humanitarian Law, Petar Antić, auch er ein Rom.

Die meisten Täter haben sich ausdrücklich zur Kosovo-Befreiungsarmee UÇK bekannt. Das geht aus den Aussagen der aus dem Kosovo vertriebenen Roma hervor. Andere Roma berichten, einige der beteiligten Kosovo-Albaner hätten Uniformen der KFOR getragen. Das verwundert nicht: Die KFOR geizt nicht mit ihren Uniformen. Selbst albanische Übersetzer dürfen sie tragen.

Die Darstellungen der Flüchtlinge passen zu den Ergebnissen eines vertraulichen Reports der Vereinten Nationen an ihren Generalsekretär Kofi Annan, über den die britische Tageszeitung Observer vor einigen Wochen berichtete. Darin wird zahlreichen Mitgliedern der aus der „Kosovo-Befreiungsarmee“ (UÇK) rekrutierten Polizeihilfstruppe TMK Beteiligung an Mord und Folter von Angehörigen ethnischer Minderheiten vorgeworfen.

Nenad Vujić, ein weiterer Anwalt des Fund for Humanitarian Law, hat Verständnis für die KFOR. Die Friedenstruppe sei auf die Eskalation der Gewalt nach ihrem Einmarsch in das Kosovo nicht vorbereitet gewesen. Zudem bestehe die KFOR nur aus Militär,Verwaltung und Polizei könne die UN-Truppe nicht ersetzen. Berichte der deutschen Gesellschaft für bedrohte Völker vom vergangenen Jahr belasten jedoch vor allem das britische KFOR-Kontingent. Die Soldaten werden beschuldigt, in Priština Übergriffen von albanischen Radikalen nichts entgegengesetzt zu haben. Im Gegenteil: Aus brenzligen Bereichen hätten sie sich einfach zurückgezogen.

Die Moravska-Straße in Priština. Mitte letzten Jahres befand sich hier die größte Roma-Siedlung der Hauptstadt des Kosovo: etwa 200 Häuser mit rund 2.000 Einwohnern. Heute ist die Straße, die sich in unmittelbarer Nähe zum Zentrum einen Hügel hochschlängelt, ein einziges Trümmerfeld. Zwischen den Mauerresten liegen Erdklumpen, verbranntes Holz und zerstörtes Mobilar herum. Manche der früheren Bewohner sind mit dem serbischen Militär aus der Stadt geflohen. Aus Berichten des Fund for Humanitarian Law geht hervor, dass viele ansässige Roma-Kinder im vergangenen Jahr gezwungen wurden, den serbischen Truppen während des Nato-Angriffs bei der Plünderung von albanischen Häusern zu helfen. Manche sollen auch freiwillig mit angepackt haben. Mit spontanen „Racheaktionen“ lassen sich die Zerstörungen nicht erklären. Hier haben offenbar organisierte „Säuberungen“ stattgefunden.

Mittlerweile wird in der Moravska-Straße von Pristina wieder gebaut. An manchen Häusern arbeiten Leute – wenn auch keine Roma. Wer wissen will, wer hier wohnt, wird in Priština zwischen UN-Flüchtlingshilfswerk, Polizei, Unmik-Verwaltung und dem Rathaus ergebnislos hin und her geschickt. Die Prioritäten der Unmik sind oft wenig durchsichtig. Verkehrsübertretungen werden strikter verfolgt als Eigentumsdelikte. Die Zuständigkeiten sind immer noch ungeklärt und die Aktivitäten der zahlreichen UN-Institutionen und Hilfswerke wenig koordiniert.

In Priština, einer Stadt mit 150.000 neuen Einwohnern, zeigt sich die internationale Verwaltung mit ihrer kafkaesken Bürokratie schnell überfordert. Obwohl schon im letzten November die Verordnung Nr. 23 der Unmik die Einsetzung zweier Gremien zur Klärung von Eigentumsfragen beschloss, ist bislang nichts geschehen. Veton Surroi, Herausgeber der albanischen Tageszeitung Koha Ditore, spricht das Naheliegende aus: Gebaut wird in der aller Regel von Leuten, die zuvor am Abfackeln der Häuser beteiligt waren. Surroi ist an Versöhnungsgesprächen beteiligt, die jeden Freitag zwischen Vertretern der Kosovo-Albaner und der Roma in Kosovo Polje stattfinden – jenem mehrheitlich von Serben bewohnten Vorort von Priština, in dem Slobodan Milošević’ Karriere im April 1987 mit einem „Schutzversprechen“ für seine Landsleute begann. Das Zusammenleben zwischen Albanern und Roma im Kosovo hält der Zeitungsmann Veton Surroi für das schwierigste und zugleich einfachste Problem der Zukunft. Schwierig, weil der Rassismus der Albaner durch den allgemeinen europäischen Rassismus gegenüber Roma quasi legitimiert werde. Einfach, weil die Roma nicht wie die Serben ein „Heimatland“ hätten, auf das sie sich beziehen können. Surroi fordert, im Kosovo wieder zur Toleranz zurückzukehren.

Zu Zeiten des Sozialismus gab es in der autonomen Provinz die ersten Fernsehsendungen in Romanes. Die Roma waren in Politik und Gesellschaft repräsentiert. Noch heute ist die Lage der Roma im Kosovo nicht überall gleich schlecht. In Prizren etwa hat sich die Lage zumindest oberflächlich beruhigt, nachdem Roma mit Hilfe der türkischen KFOR eine Bürgerwehr gebildet hatten. Im nördlich gelegenen Podujevo sprechen Roma von einem weiter völlig ungestörten Zusammenleben.

Leichter macht das die angestrebte Versöhnung zwischen den Volksgruppen nicht. Es ist schon ein Problem, legitimierte Vertreter der verschiedenen Ethnien zu finden. Und was sind Roma? Die so genannten Aschkali etwa sprechen kein Romanes mehr, sondern Albanisch. Obwohl von den Vertreibungen massiv betroffen, bezeichnen sich die meisten von ihnen als Albaner.

Das größte Problem aber ist die Planlosigkeit der internationalen Kosovo-Verwaltung. Solange keine Vorstellung davon existiert, wie es mit dem Kosovo weitergehen soll, solange gesetzliche Regelungen unklar sind und die Strafverfolgung ein Witz, solange werden Radikale weiter versuchen, vollendete Tatsachen zu schaffen.

HinweisEin Zusammenleben ist schwierig, weil der Rassismus der Albaner durch den europäischen Rassismus gegenüber Roma quasi legitimiert wird