Dickköpfig nach vorn gewandt

Wider die Tendenz zum Seichten: „Le Monde diplomatique“ stemmt sich gegen die globale Uniformität und das schnelle Infotainment

von MARIE-LUISE KNOTT

„Dass just die linke, freche, alternative oder wie auch immer schubladisierte taz eine deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique herausgeben wird, mag erstaunen“, hieß es 1995, als die tageszeitung die erste Nummer von Le Monde diplomatique ankündigte. Tatsächlich liegen die Ursprünge der beiden Medien weit auseinander: Die taz ist das Produkt einer antietatistischen Bewegung der 70er-Jahre, Le Monde diplomatique war ursprünglich eine kritische außenpolitische Stimme, die sich direkt an staatliche Institutionen wandte.

1954, kurz vor der endgültigen militärischen Niederlage Frankreichs in Indochina, gründete der damalige Herausgeber der Tageszeitung Le Monde, Hubert Beuve-Méry, die neue Monatszeitung als Organ für „die diplomatischen Kreise und die internationalen Organisationen“. Der Leitartikel der ersten Nummer, „Alte und neue Diplomatie“ überschrieben, forderte eine Rückbesinnung auf das Selbstverständnis von „Diplomatie“ als einer Kunst, den Frieden zu stiften.

Von Anfang an begleitete Le Monde diplomatique den schwierigen Prozess der Entkolonisierung mit dem Ziel, den Horizont der französischen Diplomatie zu weiten, die sich hinter einem gekränkten kolonialen Verteidigungswall verbarrikadiert hatte. Mit fundierten Hintergrundtexten arbeitete man gegen das Feindbild vom „bedrohlichen Fremden“ und versuchte eine Neudefinition der diplomatischen Einflussmöglichkeiten Frankreichs. Nach und nach wandelte sich das Blatt, die Zustände und Probleme in den neuen unabhängigen Staaten rückten ins Zentrum, man kritisierte den ungleichen Tausch, die Bijouterie- und Parfumerie-Reklamen verschwanden.

Unter dem Herausgeber Claude Julien entwickelte sich Le Monde diplomatique in den Siebzigerjahren zur Hauptinformationsquelle gleichermaßen für Botschaftsangehörige, Dritte-Welt-Engagierte und Entwicklungshelfer.

Angesichts der allgemeinen Kapitalverflechtungen und der drohenden Einflussnahme zeitungsfremder Konzerninteressen schuf sich die Redaktion in den Neunzigerjahren eine unabhängige Firma. Zur finanziellen Absicherung riefen sie einen Unterstützerkreis (Les Amis du Monde diplomatique) ins Leben und gründeten, gegen das allgemeine politische Vakuum, neben dem Freundeskreis eine Bewegung zur Kontrolle und Besteuerung von Finanztransaktionen: ATTAC.

Le Monde diplomatique produziert mittlerweile Radiosendungen sowie eine zweimonatlich erscheinende Themenzeitschrift (Manière de voir). Zudem ist die Monatszeitung ein Exportschlager: In deutscher Sprache gibt es sie separat am Kiosk sowie als Beilage der taz, der Schweizer Wochenzeitung und des Luxemburger Tageblatts; der Wiener Standard übernimmt regelmäßig Seiten unserer Ausgabe. Daneben gibt es Le Monde diplomatique auf Englisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Arabisch, Japanisch und Griechisch.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich auch der Inhalt der Zeitung gewandelt. Die globale Gefahr der Uniformisierung, ja: Amerikanisierung ist zu einem der Hauptthemen vieler Artikel geworden. Dabei geht es zuallererst um eine Analyse der neuen Machtstrukturen, um die Opfer der Globalisierung und um die Zustände in peripheren Teilen der Gesellschaften wie der Welt als ganzer.

Doch die Kritik am Globalisierungs-Mainstream und die Suche nach neuen Handlungsräumen ist offensichtlich immer noch eine Provokation, wie man an der teils bissigen, teils belustigten Kritik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erkennen kann: „Wir befinden uns am Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus. Ganz Europa ist von den internationalen Finanzmärkten und der amerikanischen Massenkultur beherrscht. . . . Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern herausgegebenes Magazin hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten.“ Als seien die Kritiker der Globalisierung so hinterwäldlerisch wie ehedem die Kritiker der Eisenbahn oder so doktrinär wie einst der Schwarze Kanal.

Sicher ist, dass in der französischen Kultur mit ihren republikanischen Werten der Wettstreit der Meinungen und das Spiel der Provokationen positiver besetzt sind als bei uns. Der Wechsel politischer Positionen mit jeweils hohem Engagement ist im intellektuellen Leben des Landes selbstverständlicher als in Deutschland und, wie man an der Geschichte Jean Paul Sartres oder Yves Montands sehen kann, nicht per se als „Unernsthaftigkeit“ negativ konnotiert. Die Absatzzahlen der französischen Ausgabe steigen stetig.

Auch in der Bundesrepublik ist Le Monde diplomatique längst fester Bestandteil der Medienlandschaft und stößt auf wachsendes Interesse. Gegen den Trend zum schnellen Infotainment setzte die taz 1995 unter dem Motto „Wider die Tendenz zum Seichten“ auf die analytischen, der Tagespolitik entzogenen Artikel aus dem Nachbarland. So war es beispielsweise gerade die nach vorn gewandte Dickköpfigkeit der „unbeugsamen“ Le Monde diplomatique, die als erste Anfang 1999 das Abhörsystem „Echelon“ gründlich recherchierte und kritisierte, lange bevor in Deutschland der Verdacht der elektronischen Wirtschaftsspionage durch Amerika das Thema in die Schlagzeilen der Tageszeitungen brachte.

Die regelmäßigen Leser der deutschsprachigen Le Monde diplomatique wissen, dass die Übersetzung der französischen Zeitung nie ganz gelingt, dass die französische Kultur hartnäckig die Zeitung prägt, mag die deutsche Redaktion auch neue Vorspänne schreiben, andere Überschriften wählen oder sich an deutsche Lesegewohnheiten anzuschließen versuchen. Texte über soziokulturelle Entwicklungen etwa, verfasst von meist französischen Autoren, sind zwar oft voller anschaulicher Beispiele – doch diese entstammen meist dem französischen Alltag und sind hierzulande entweder unbekannt oder zumindest fremd. So müssen sich deutsche Leser die fremden Assoziationen und Beispiele immer zuerst in den eigenen Kontext übersetzen, den Text zu sich nach Hause holen und sich im eigenen Kopf parallele Beispiele kreieren.

Wie in der EU also bedarf das kulturelle Miteinander der einzelnen Länder immer noch eines enormen Grenztransportes, auch wenn auf der Geldebene die Grenzen schon schwinden. Vielleicht aber ist Le Monde diplomatique mit seiner internationalen Autorenschaft nicht nur die Metapher eines Zustands, sondern darüber hinaus ein Baustein des kulturellen und politischen Austauschs im zusammenwachsenden Europa.