Wir sind keine Heiligen

Bei den traditionellen Passionsfestspielen in Oberammergau bemüht sich dieses Jahr eine jüngere Generation um neue Einsichten

von NIELS KADRITZKE

Benedikt Stückl ist 78 Jahre alt und kann seine Zeitung nur noch mit der Lupe lesen. Aber die Familienfotos, die an der Wand im Wohnzimmer hängen, die weiß er auswendig zu erzählen: „Schaun’s, das ist 1950. Hier, das ist mein Vater, mein Bruder, und ich als Kaiphas, daneben meine Schwester. Und das ist der Peter, der Vater vom jetzigen Spielleiter. Und das ist 1960, meine Schwester war schon verheiratet, die ist dann nimmer dabei, aber dafür der Schwager. Und ich wieder als Kaiphas ...“

Die Fotos zeigen die Mitglieder der Familie Stückl im Wechsel der Kostüme. Vier Generationen und fünfzig Jahre Oberammergauer Passion. Seine erste Sprechrolle spielte der 28-jährige Benedikt im Jahre 1950, das für das ganze Dorf eine besondere Bedeutung hatte: „Da dürfen wir mit Recht ein bißchen stolz sein: Wir haben das Tor zur Welt aufgestoßen ...“

Das verschlossene Tor, das die Welt von Oberammergau fern gehalten und Oberammergau von der Welt isoliert hatte. Jetzt wollte man, nur fünf Jahre nach Kriegsende, die Dorftradition fortsetzen, die auf ein Gelübde aus dem Jahre 1633 zurückgeht. Das war nicht einfach, denn im Zweiten Weltkrieg waren 150 Oberammergauer gefallen. Aber wer den Krieg überlebt hatte, wollte unbedingt spielen, sagt Benedikt Stückl: „Zehn Jahre sind ein ganzer Lebensabschnitt – ich kann ja eine Rolle nur zweimal, dreimal bestreiten.“

Die Dorfbewohner hatten nicht nur individuelle Rollenträume. Es war auch ein kollektiver Neubeginn, den sie zur nationalen Mission verklären konnten: Stellvertretend wollten sie die Rückkehr der Deutschen in die Völkergemeinschaft aufführen. Bürgermeister Raimund Lang pries das Passionsspiel als Ausdruck „christlich-abendländischer Kultur“, als „Baustein zur geistigen Wiedergesundung unseres Landes“.

Nach Neubeginn klingt das heute nicht, jedenfalls nicht für einen wie Otto Huber, der 1950 drei Jahre alt war. Heute ist er Dramaturg und zweiter Spielleiter der Passionsspiele 2000. Ein literarisch versierter, historisch sensibler Kopf, der, seinem urtümlichen Vollbart zum Trotz, dem Klischee des Hinterwäldlers, das Flachlandbewohner gerne auf Oberbayern projizieren, keine Chance lässt. Das Dorf von 1950 sieht Huber durch den Schock des Zweiten Weltkrieges geprägt und durch das Bewusstsein: „Wir sind jetzt der hässliche Deutsche. Da bot Oberammergau die Möglichkeit, den guten Deutschen zu präsentieren: Wir sind ein gutes, christliches, abendländisches Volk, das nur eine kurze Versuchung erlebt hat. Das war die Message, die man rüberbringen wollte.“

Eine Message braucht geeignete Boten, um ihr Publikum zu erreichen. „Kein Ereignis in Deutschland nach dem Weltkrieg“, berichtete die Süddeutsche Zeitung von der Passionsspielpremiere, „hat so viele erlesene Persönlichkeiten unter einem Dach versammelt gesehen. Die 500 Journalisten telephonierten und kabelten diese Feststellung in alle Welt.“ Die wichtigste Botschaft war die Präsenz der Hohen Kommissare. Mit ihrem Besuch erklärten die Repräsentanten der USA und Großbritanniens die Bereitschaft, zwischen den „guten“ und den „schlechten“ Traditionen der Deutschen zu unterscheiden.

Im Ausland hatte man Oberammergau schon immer den „guten“ deutschen Traditionen zugerechnet. Und die Hohen Kommissare repräsentierten zugleich die Länder, die vor dem Krieg die meisten ausländischen Passionsspiel-Touristen gestellt hatten. Das hoffnungsvollste Zeichen der Normalisierung war die Rückkehr der American Express Company und des britischen Reisebüros Thomas Cook, die wieder Dollar- und Sterlinggäste heranschafften. Für das Dorf war der Tourismus die einzige Zukunftsperspektive.

Ansonsten lebte man seit eh und je einzig von der Oberammergauer Holzschnitzerei. Die Armut musste man mit Flüchtlingen teilen, die bei den Einheimischen einquartiert waren. Also waren sämtliche Fremdenzimmer belegt – für das Passionsspiel 1950 ein großes Problem. Die Gemeinde löste es, indem sie außerhalb des Ortskerns neue Häuser baute und die Flüchtlinge zu Beginn der Passionsspiele umsiedelte. Fühlten sich die Flüchtlinge damals abgeschoben?

Auf keinen Fall, versichern Herr und Frau Horek fünfzig Jahre danach. Sie waren froh, endlich eigene vier Wände zu haben. Aber nicht alle Flüchtlinge konnten ein eigenes Haus beziehen, viele fanden sich in Notquartieren wieder. Wie der Spiegel im November 1950 meldete, mussten 157 Flüchtlingsfamilien auch nach Ende der Saison in ihren Baracken bleiben: „Die Oberammergauer Hausbesitzer verweigerten die Wiederaufnahme mit dem Hinweis auf ein neues bayerisches Gesetz: Sie seien ein konzessionierter Fremdenverkehrsbetrieb und dadurch von Zwangsanweisungen ausgenommen.“

Frau Horak kann die Einheimischen von damals verstehen: „Man wollte ja den Tourismus wieder ankurbeln.“ Auch Herr Horak hält es für ganz natürlich, dass die Oberammergauer „allgemein misstrauisch“ waren. Und dann betonen beide, wie tadellos sie heute integriert seien. Herr Horak ist der leibhaftige Beweis dafür. Auch dieses Jahr wird er zu den Volksmassen gehören, die Christus beim Einzug in Jerusalem zujubeln. War er 1950 nicht verbittert, dass er nicht mitspielen durfte? Herr Horak verneint: „Das durften die anderen Fremden ja auch nicht. Sogar wenn sie von Unterammergau herkamen.“ Die Mitwirkungsrechte beim Passionsspiel sind streng geregelt. Dass man zwanzig Jahre ansässig sein muss, findet Herr Horak in Ordnung: „Früher gab es ein Heimatrecht, wenn du keine zehn Jahre dort warst, hast du zum Ort nicht gehört. Das dient zum Schutz der Einheimischen, aber ebenso der Auswärtigen.“

Allerdings wurde 1950 eine Ausnahme gemacht. Benedikt Stückl erzählt: „Die Flüchtlingskinder sind ja auch in die Schule gegangen, und die durften damals mitspielen. Das war aber schon eine Revolution, wenn man so sagen darf. Da gab es erst viel böses Blut, am Ende haben sie es dann eingesehen.“

Wo das Selbstverständliche als Revolution empfunden wurde, wäre ein wirklicher Umbruch einem biblische Wunder gleichgekommen. Wie ehrlich war also das Bekenntnis der Oberammergauer zum Neubeginn von 1950? Ein Umbruch setzt voraus, dass man sich, christlich gesprochen, zu läutern bemüht. Läuterung setzt voraus, dass man erkennen will, was schief gelaufen ist. Danach stand den Oberammergauern nicht der Sinn. Erleichtert wurde diese Haltung durch die reibungslose Rückkehr der Vorkriegsgäste. „1950 hat man ein unschuldiges Gesicht gemacht“, sagt Otto Huber, „es kamen ja die Engländer wieder ...“

Selbstbesinnung kommt oft durch einen Stein des Anstoßes in Gang. Der war im Fall Oberammergau ein schwerer Brocken. 1934 hatte man das 300-Jahres-Jubiläum der ersten Passion veranstaltet. Bei einer Aufführung im August war der Führer zu Gast gewesen. Der Bürgermeister bat Hitler damals, das Passionsspiel unter seinen persönlichen Schutz zu stellen. Der Führer gewährte dem Unternehmen Oberammergau seinen Segen aus volkspädagogischen Gründen. Nirgendwo, bekannte er einmal, habe er die jüdische Gefahr so klar veranschaulicht gesehen. Die Figur des Pontius Pilatus beeindruckte ihn „als ein rassisch und intelligenzmäßig so überlegener Römer, dass er wie ein Fels inmitten des jüdischen Geschmeißes und Gewimmels“ wirke. Das Passionsspiel sei deshalb für die „Aufklärung aller kommenden Geschlechter“ unentbehrlich.

Ein Anstoß zum Nachdenken über die Vergangenheit? Mitnichten. Der Neuanfang beschränkte sich auf die Entschlossenheit, das Alte fortzusetzen. Das zeigte sich auch bei der Rollenbesetzung. Als der Wahlausschuss die Darsteller bestimmt hatte, war das internationale Echo verheerend. Benedikt Stückl berichtet, was er damals in der US-Soldatenzeitung Stars und Stripes las: „Also, dass der Christus ein Nazi war und Petrus auch. Der Einzige, der weder braun noch ein Nazi war, war Judas, der Verräter. Das vergess ich mein Lebtag net.“

Wie viele Darsteller von 1950 alte Nazis waren, ist bis heute umstritten. Doch der prominenteste Fall liegt klar. Otto Huber erzählt, was alle wissen: „Damals gab es eine harte Konkurrenz um die Christus-Rolle. Und es hat eine Rolle gespielt, dass der eine Kandidat verheiratet war mit einer Protestantin. Deswegen hat man ihn nicht genommen, während man den genommen hat, der bei der SA war, mit Knarre auftrat und mit Naziparolen eine Fronleichnam-Prozession gestört hat. Den hat man zum Christus-Darsteller gemacht.“

Über diesen Darsteller schrieb im Mai 1950 der Premierenkritiker der Süddeutschen Zeitung: „Anton Preisinger ist ein Christus von schöner Gestalt, sanft, nicht sonderlich grob, ganz Jesus als guter Hirte. Weiß war sein Gewand und karminrot der Überwurf.“ Preisingers braune Vergangenheit verschwand unter dem weißen Gewand. Natürlich wurde er damals nicht wegen seiner Gesinnung gewählt. Aber wahr ist, dass für den Oberammergauer Christus eine Nazivergangenheit weniger anstößig war als eine protestantische Ehefrau.

Dass die Älteren über die Rollenfärbung von 1950 nicht gerne sprechen, gebietet ihr Verständnis von dörflicher Solidarität. „Das Passionsspiel ist eine Gemeinschaftsarbeit. Da lässt man aufeinander nichts mehr kommen. Gewählt ist gewählt“, meint auch Benedikt Stückl. Dabei hätte gerade er gute Gründe, sich über Preisinger auszulassen – als der unterlegene Christus-Kandidat, dessen Frau das falsche Gesangbuch hatte.

„Wir sind keine Heiligen“, hatte Johann Georg Lang, der Spielleiter von 1950, argumentiert. Und meinte damit zugleich, man dürfe die Passionsspieler auch nicht als besonders teuflische Nazis sehen. In beidem hatte er Recht. Oberammergau war ein ganz normales Dorf in Oberbayern. Es war diese Normalität, die im Mai 1950 von den westlichen Alliierten abgesegnet wurde. Das Gesetz, das die juristische Bewältigung der Vergangenheit in die Hände der Deutschen legte, wurde im Herbst, kurz nach der letzten Oberammergauer Vorstellung, in Bonn verabschiedet. Es bescherte etlichen abgeurteilten Kriegsverbrechern eine vorzeitige Haftentlassung und anstandslose Integration in die Nachkriegsgesellschaft.

Die Integration der Oberammergauer Flüchtlinge dauerte etwas länger. Für die Passion wurden sie erst 1970 mitspielberechtigt. Seitdem ist die Eingliederung der Neubürger rüstig fortgeschritten. 1990 durfte erstmals der protestantische Ortspfarrer bei der Wahl der Darsteller mitstimmen, für die auch Nichtkatholiken kandidieren können. Die jüngste Errungenschaft könnte man sogar als Revolution bezeichnen. Otto Huber berichtet mit unverhohlenem Vergnügen: „Seit 2000 kann auch ein Nichtgläubiger mitmachen, etwa ein Mensch islamischen Glaubens. Unter den Darstellern der Römer, in der Oberammergauer Kohorte, ist heuer auch ein Türke mit drin im Spiel.“

NIELS KADRITZKE, 56, ist Journalist in Berlin