Der Verstand

Stefan Liebich ist jung und Reformer. Er könnte Petra Pau als Berliner PDS-Chef beerben

von UWE RADA

Das war Churchill, meint Stefan Liebich und lässt sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen. „Wer mit 18 kein Kommunist ist, hat kein Herz, wer mit 30 immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“

Stefan Liebich ist 27. Stefan Liebich hat mehr als Verstand, er hat Sachverstand. Das reicht, um in der PDS Karriere zu machen, vor allem, wenn man zu den Reformern zählt. Und Stefan Liebich hat Karriere gemacht. Mit 23 zog er ins Berliner Abgeordnetenhaus. Mit 24 war er Bezirksvorsitzender seiner Partei in Marzahn. Im vergangenen Dezember wurde er stellvertretender Landesvorsitzender. Und im Vorfeld des heutigen PDS-Landesparteitags wurde er sogar schon als Nachfolger der Noch-Landesvorsitzenden Petra Pau gehandelt.

Wo aber bleibt, bei so viel Karriere, das Herz? Hat einer, dem der Erfolg in die Wiege gelegt wurde, noch Träume? Liebich denkt einen Moment nach, versichert sich: „Politisch?“ Er spricht langsam: „Vielleicht zu versuchen, Schlimmeres zu verhindern.“ Dann wird er konkreter: „Als Sozialist hat man schon die Aufgabe, jenseits der Sachzwänge Optionen zu formulieren.“

Optionen sagt er, nicht Alternativen. Am liebsten würde er noch konkreter werden: „Umlagefinanzierung“ zum Beispiel sei eine geeignete Möglichkeit, „der Ausbildungsmisere bei den Jugendlichen entgegenzusteuern“. – „Leichte Eingriffe in die Marktwirtschaft“, nennt er das dann. Spricht so ein Revolutionär?

Nein, sagt Stefan Liebich, ein Querkopf sei er nicht, wenngleich es ihm Leid täte, wenn die PDS ihre Querköpfe verlöre. Einen von ihnen, Bernd Holtfreter, hat er sich sogar zum Vorbild erkoren. Holtfreter war zu DDR-Zeiten Oppositioneller und musste sich, da war aus der DDR längst die Bundesrepublik geworden, manchmal anhören, solche wie er hätten den Sozialismus verraten.

Stefan Liebich dagegen war 17, als die Mauer fiel, und bis dahin, wie er selbst sagt, „ein Hundertfünfzigprozentiger“. Heute beschäftigt er sich mit der Konsolidierung des Landeshaushalts.

Was, so hat man nach dem Bundesparteitag in Münster oft gefragt, ist eigentlich die PDS? Und wie steht es um die Reformer? Der politische Unterschied zwischen dem realpolitischen Reformer Liebich und den linken bis zuweilen linksradikalen Reformern seiner Partei könnte tatsächlich größer nicht sein. Was sie dennoch eint, ist der Abstand zur DDR und der SED. Den haben manche, wie Stefan Liebich, als Bruch vollzogen, andere dagegen, wie Bernd Holtfreter, haben ihn schon in der DDR propagiert.

Seit den nach Münster angekündigten Rücktritten von Gregor Gysi und Lothar Bisky bläst den Reformern aber ein scharfer Wind ins Gesicht. Mit der Ablehnung von UN-Kampfeinsätzen, so lautet die gängige Erklärung, hätten die Nostalgiker Oberwasser bekommen, viele sehen bereits den Modernisierungskurs in Gefahr. Und Stefan Liebich?

„Münster“, sagt Stefan Liebich ganz im Duktus eines medienerfahrenen Profis, „war keine Katastrophe, Münster war aber auch kein Betriebsunfall.“ Liebich sagt es auch im Wissen darum, dass der Berliner Landesverband der PDS traditionell als Hochburg der Reformer gilt.

Ganz sicher ist er sich aber nicht. Zwar hat er zusammen mit den anderen Mitgliedern des Landesvorstands einen Leitantrag ausgearbeitet, in dem eine deutliche Distanzierung von der SED und der DDR gefordert wird. Doch da ist eben auch noch der Fall der Cornelia Hildebrandt, die in den Landesvorstand gewählt wurde, ohne ihre Stasi-Vergangenheit offenzulegen (siehe Kasten). Der Abgeordnete Wolfgang Brauer, einer von denen, die sich nicht zu den Reformern zählen, warf der Landesvorsitzenden Petra Pau deshalb Führungsschwäche vor, und nicht wenige fürchten, dass der Parteitag auch zur Abrechnung mit dem Landesvorstand werden könnte. Droht auch der Berliner PDS ein Münster?

Stefan Liebich ist vorsichtig. Eine Ablehnung des Leitantrags hätte Konsequenzen. Welche, verrät er nicht. Vielmehr hofft er, dass die Partei weniger über den Stasi-Fall redet, sondern die Aufgaben im Hier und Heute. „Ankunft“, das weiß auch der Hoffnungsträger der Berliner PDS, ist einmal mehr das Stichwort, das seine Partei bewegt, und manchmal scheint es, sie könnte auch daran scheitern.

Für Stefan Liebich ist Ankuft kein Thema mehr. Obschon 1972 im mecklenburgischen Wismar geboren, ist er in erster Linie Bürger der Bundesrepublik. Nachdem er lange Zeit in Marzahn gelebt hat, ist er nun nach Prenzlauer Berg gezogen, jenen Ort, an dem sich auch die „Neue Mitte“ vergnügt. Nur im Abgeordnetenhaus trifft er noch auf seinen Kontrapart Wolfgang Brauer, den er 1996 als Marzahner Kreisvorsitzender beerbte. Dann streiten sie sich manchmal über Haushaltspolitik. Liebich vertritt einen strikten Konsolidierungskurs, Brauer stimmt im Haushaltsausschuss auch schon gegen seine eigene Fraktion. Reformer gegen Sektierer? Modernisierer gegen DDR-Nostalgiker?

Stefan Liebich will sich da nicht so sehr festlegen. Er habe lange genug in Marzahn gelebt, sagt er, um zu wissen, was die Menschen dort bewegt. Und er weiß auch, dass Wolfgang Brauer im Gegensatz zu anderen Marzahner Genossen kein Apparatschik ist. Vielleicht ist er auch deshalb vorsichtig, weil er als möglicher Landesvorsitzender einmal alle Strömungen unter einen Hut bekommen muss. Oder weiß, dass die Konflikte, die die PDS manchmal zu zerreißen drohen, nicht mehr nur in der Vergangenheit liegen. Vielleicht verbirgt sich dahinter ein ganz normaler Richtungsstreit der Gegenwart, der in der PDS nur deshalb diese Bedeutung erlangt, weil man dieser Partei eine bloße Gegenwart einfach nicht zutrauen mag. Vielleicht geht es ja wirklich um die Frage nach dem Herz. Und die nach dem Verstand. Oder beidem.