Karl Kraus und „Die letzten Tage der Menschheit“

■ Auszüge aus einem Originalbeitrag von Hans Mayer, einem der bedeutendsten Vermittler europäischer Literatur

Im Jahre 1899, kurz vor einer Jahrhundertwende, beschloss der damals fünfundzwanzigjährige Schriftsteller und Rezitator Karl Kraus aus Gitschin, eine literarische Zeitschrift in Wien herauszugeben. Die Fackel sollte sie heissen. Karl Kraus war Jahrgang 1874: Jahrgangsgenosse also von Arnold Schönberg, seinem späteren Bewunderer, und von Bruno Walter, dem Schüler Gustav Mahlers. Kraus wurde am 28. April 1874 geboren, er starb im Jahre 1936 in Wien.

Ein ganzes schmerzvolles 20. Jahrhundert hat der historische Karl Kraus mühelos überstanden. Ein Jahrhundert seit dem Erscheinen der Fackel ist der Zeitschriftentitel ein literarisch-historisches Faktum geworden. Mit all seinen Übertreibungen und seinen seelischen Exzessen wurde Karl Kraus zu einem der grossen Zeiterklärer unserer neuesten Geschichte. Von allen Voraussagern und selbsternannten Propheten hat er, wie es scheint, am meisten Recht gehabt.

Zum 60. Geburtstag von Karl Kraus im April 1934 hatten sich die Krausianer bereits eng zusammengeschlossen: auch obwohl Karl Kraus damals, also nach 1933, für manchen seiner Bewunderer zum Ärgernis zu werden drohte. Der Bewunderer Arnold Schönberg widmete Kraus, der eigentlich unmusikalisch war, seine Harmonielehre. Alban Berg schrieb einen begeisterten Geburtstagsgruss. Bertolt Brecht steuerte ein Gedicht bei, das den Entschluss von Kraus rechtfertigte, auf den Anbruch eines dem Konzept nach aus dem österreichischen Antisemitismus nach Deutschland importierten Dritten Reiches ohne alle Rechtfertigung zu reagieren. Bert Brecht erklärte: Da der beredte Karl Kraus sich entschlossen habe, das neue deutsche Geschehen zu beschweigen, „... trat das Schweigen vor den Richterstuhl,/ und gab sich zu erkennen als Zeuge“.

Das erste Jahrzehnt dieses 20. Jahrhunderts machte für jeden, der frei von aller idealisierten Habsburgerei war, die Morbidität dieses Österreich-Ungarn täglich von neuem sichtbar. Ganz unabhängig voneinander haben damals zwei österreichische Zeitgenossen damit begonnen, diesen Weg einer Weltmacht in den verschuldeten und verdienten Untergang nachzuzeichnen: Robert Musil und Karl Kraus. In den damals entstandenen „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil, worin bereits jenes Kakanien aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ umgeht, und den damals erscheinenden Heften der Fackel, worin bereits, wie sich später zeigen sollte, die „Letzten Tage der Menschheit“ entworfen wurden, gehören sie zusammen.

„Die letzten Tage

der Menschheit“

Gleich nach Ausbruch des Weltkrieges im August 1914 hätte Karl Kraus in einer neuen Spielzeit, vermutlich im September, einen öffentlichen Vortrag halten sollen. Er wurde, vermutlich mit innerem Schaudern, von der Militärzensur verboten. Die Russen waren in Galizien eingefallen. Dann jedoch wähnte man eigene Siege. Plötzlich durfte Karl Kraus seinen Vortrag oder seine geplante Lesung halten. Der Saal war überfüllt. Kraus begann mit dem Satz: „In dieser Grossen Zeit, die ich noch gekannt habe, als sie soo klein war...“ Damit war alles entschieden. Er hielt allen Optimismus der Kriegsführer und Kriegstreiber für verbrecherisch. Publizistischer Optimismus war Lüge: auch bereits zur Zeit angeblich Tageserfolge an den verschiedenen Fronten. Karl Kraus verwandelte sich in einen professionellen Nörgler. So entstand eines der Leitmotive zum künftigen Riesendrama von den „Letzten Tagen der Menschheit“. Der Optimist und der Nörgler: Ihre windschiefen Gespräche durchziehen alle Kriegsjahrgän-ge. Der Optimist jubelt mit der offiziellen Zensur, mit den dummen Offiziersjungen an der Sirk-Ecke. Die Wiener Sirk-Ecke schaut hinüber zur Kärntner Strasse und auch zur kaiserlichen Hofoper. Dort trifft man sich, weil man natürlich als Presseoffizier unabkömmlich ist. Man jubelt. Ganz wie die Neue Freie Presse. Im Gespräch des Optimisten freilich mit dem Nörgler gefriert aller Jubel sogleich. Da wird das blanke Entsetzen und Verbrechen sichtbar.

Wie hat Kraus seinen Titel verstehen wollen „Die letzten Tage der Menschheit“? Er hat sie doch selbst noch mit allen nicht hingemordeten Zeitgenossen überleben dürfen. Trotzdem war mehr gemeint als bloss letzte Tage der Donaumonarchie und des morbiden Staatsgebildes Österreich-Ungarn. Es waren die letzten Tage angebrochen. Nicht allein des halbfeudalen, sondern des spezifischen Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert. Nichts hatte standgehalten, keine Rechtsnorm, keine Kritik, keine gesellschaftliche Hierarchie. Ein einziges Verbrechen von Menschen an Menschen. Insoweit nahm der Erste Weltkrieg bereits jenen Zweiten vorweg. Den Gaskrieg kannte man bereits seit 1916. Auch er wurde damals bewundert von der Zensur, von Optimisten, von der Neuen Freien Presse, vom Pressehauptquartier. Kraus antwortet als Nörgler. Eine erste Ausgabe der damals entstehenden „Die letzten Tage der Menschheit“ wurde noch während des Krieges publiziert: in Form einer einmaligen Buchausgabe der Fackel. Eine Photographie vom Kriegsgeschehen war als Illustration beigegeben. Wir blicken auf einen Gehenkten am Galgen mit gebrochenem Genick. Er wird flankiert von seinen grinsenden Henkern. Vielleicht ein Deserteur, ein Flüchtling, ein angeblicher Spion, was immer man vorgebracht hatte bei dieser Mordtat.

Diese Konstellation ist vermutlich das Grundmotiv geworden eines dramatischen Riesengebildes, dem der Dramatiker selbst nur Aussichten zubilligen wollte auf einem 'Mars-Theater'. Hier täuschte sich Kraus. Sein angebliches Mars-Theater wurde zum Klassiker bei Vortragsabenden und auch immer mehr auf der Schaubühne selbst. Nach Ende eines Zweiten Weltkrieges veranstaltete das Schauspielhaus Zürich, dem viele jüdische und nichtjüdische Emigranten, gerade auch Österreicher und Österreicherinnen, zur Verfügung standen, an zwei Sonntagvormittagen eine gemeinsame Lesung des Textes von Kraus durch das Ensemble. Die grosse Therese Giehse in der Rolle jener unsäglichen Journalistin Alice Schalek, die sich an der Front im Namen ihres Blattes darüber beschwerte, dass sie nicht ein bisschen losschiessen darf mit der Kanone. Eine Kollegin hätte es doch gedurft. Der Regisseur Leopold Lindtberg sass mitten in der ersten Reihe. Er sprach die Anmerkungen und er sprach den Nörgler, also die Rolle von Karl Kraus. Später brachte man in Basel, also ebenfalls in der Schweiz, eine szenische Aufführung auf die Schaubühne. Man machte den gesamten Theaterraum mit seinen Nebenräumen zur Bühne für die vorüberflimmernden Szenen. Heute sind szenische Aufführungen zur erfolgreichen Regel geworden.

In seinem (im engeren Sinne) schriftstellerischen Hauptwerk, eben jenem Text für ein Mars-Theater, nimmt Kraus, vielleicht noch unbewusst, zwei schlüssige Versanfänge aus den späten zwanziger Jahren vorweg: „Am Anfang war die Presse, und dann erschien die Welt.“ So war es, und so ist es geworden. Zuerst der publizierte Bericht. Dann erst wird die eigentliche Schöpfung nachgeliefert.

Daran hielt sich der Dramatiker seines Menschheitsdramas. Alle lächerliche und abscheuliche Realität des sogenannten wirklichen Geschehens wurde zum blossen Hintergrund. Berichtet wird der Bericht darüber. In den meisten Fällen hat Kraus die Presseberichte einfach dramatisiert, und damit in Wiener Wirklichkeit verwandelt. Die Szene, wo Wilhelm der Zweite vor seinen Feldherren in gewohnter Weise schwadroniert. Er lässt sich dabei immer wieder Kaviarbrötchen reichen, schiebt mit dem Finger den Kaviar in den Mund, wirft das Brot weg. Dann fragt er den Grossadmiral, ob er auch einen Kaviar möchte. Er möchte natürlich, bekommt ihn aber nicht vom strahlenden Kaiser.

Oder Wilhelms Audienz für den steirischen Erzähler Peter Rosegger, der natürlich ein Mann von Kaisers Herzen ist. Rosegger esse sehr gern, hat man dem Monarchen überbracht. Folglich musste der arme Rosegger, stets aufgemuntert, immer wieder dem obersten Kriegsherrn voressen. „Essen Sie, Rosegger!“ Erbarmungslos stehen die Texte nebeneinander. Das ergreifende Gedicht vom sterbenden Soldaten und die Drückeberger-Episoden der reichen Bürgersöhne, die einberufen wurden und gemeinsam zur Militärbehörde spazieren, um „sich's zu richten!“ Sie werden es auch richten. Im Pressequartier. Unabkömmlich.

Jeder Vortragsabend ausgewählter Texte aus dem Mars-Drama bewirkt unweigerlich zwiespältige Reaktionen. Immer wieder viel Gelächter, doch man wird seiner nicht froh. Die Komik ist zu gross, das reale Entsetzen gleichfalls. Dieses Werk hat nicht seinesgleichen.

Der Schlussakt, an Goethes „Faust“ erinnernd, hat eine „Stimme von oben“. Doch es ist nicht Gottes Stimme. Es gehört zu den unheimlichen Pointen von Karl Kraus, dass er sein Marsdrama, worin alles im Grunde blosses Zitat ist, auch mit einem Zitat „von oben“ beschliesst. Die Stimme behauptet: „Ich habe es nicht gewollt.“ Ein Zitat, wie gesagt. Gesprochen vom sehr alten Kaiser Franz Josef. Dabei hat er es zugelassen, formell befohlen, folglich verursacht.

Es führt ein unmittelbarer Weg in diesen Vorgängen des 20. Jahrhunderts von diesem Schlusswort Franz Josefs während eines Ersten Weltkrieges zu einem Ausspruch des schweizerischen Dramatikers Friedrich Dürrenmatt aus den fünfziger Jahren. Also nach einem Zweiten Weltkrieg. Wie vor ihm Karl Kraus übernimmt Dürrenmatt einen Gedanken aus dem Ersten Weltkrieg. Damals hatten, etwa 1917, die Kritiker des militärischen Geschehens in Erwartung der Niederlage die Formel gefunden, wonach die Lage zwar ernst sei, aber nicht hoffnungslos. Karl Kraus und seine Leser hatten von Wien aus die Formel umgedreht: Die Lage sei hoffnungslos aber nicht ernst. So auch Dürrenmatt später in seinem Text über „Theaterprobleme“. Er leugnet die Möglichkeit des Jahrhunderts, Tragik zu produzieren und erst recht zu empfinden. Tragik setze Schuld voraus. Die Menschen des 20. Jahrhunderts jedoch, so Dürrenmatt, hätten kein Schuldempfinden. Sie hätten es nicht gewollt, und sie hätten es auch nicht verhindern können. Diesmal lautet die Stimme von oben, gesprochen von Friedrich Dürrenmatt: „Uns kommt nur die Komödie bei.“

Die Nachwelt

In der Zeit vor seinem Tode am 12. Juni 1936 muss Kraus gleichzeitig als ein enttäuschter Utopist und Traditionalist, sehr traurig und bitter gewesen sein. Viele negative Augenblicksurteile aus seinem Munde wurden bekannt. Wer will da unterscheiden zwischen dem Ekel vor der Medizin und der Krankheit. Vor den Zuständen und den Menschen? Kraus starb, so wird man es traurig sagen müssen, zur rechten Zeit. Dadurch entging er, bei längerem Weiterleben, dem eingeplanten Mord.

Heute steht er am Beginn eines neuen Jahrhunderts, und hat immer wieder in überwältigender Weise Recht. Was einstmals im „Lied von der Presse“ als belachte Pointe angenommen wurde, wonach der Bericht über eine entstandene Welt nicht unbedingt von einer bereits entstandenen Welt zu berichten habe, wurde inzwischen anerkannte Wirklichkeit. Die immer wieder im Namen von Menschenrecht und Demokratie unternommenen Bombenkriege, die stets verloren gingen, dienen zum Exempel. Was weiss man von ihnen – in Vietnam; im Irak; im Kosovo; im Kauka-sus–, wenn man die offiziellen und auch die scheinbar so unabhängigen Berichte gelesen hat?

Karl Kraus misstraute den Geisteswissenschaftlern. Beim Anblick eines Literaturhistorikers erinnerte er sich an einen Ausspruch von Bismarck, wonach ein Journalist ein Mensch sei, der seinen Beruf verfehlt habe. Kraus setzte noch eines drauf. Ein Literaturwissenschaftler habe den Beruf zum Journalisten verfehlt.

Auch von der Philosophie des 20. Jahrhunderts scheint er wenig gehalten zu haben. Als er den grossen kritisch-verehrungsvollen Essay Walter Benjamins über Karl Kraus gelesen hatte, behauptete er, gleichsam als Selbstschutz: Er habe ihn nicht verstanden. In Wahrheit steht der Nörgler inmitten aller ernsthaften philosophischen Auseinandersetzungen unserer Neuzeit. Von ihm führt der Weg zu Ludwig Wittgenstein und seiner Unterscheidung zwischen wirklichem Wissen und wirklichem Schweigen. Kraus kannte gleichfalls dieses Thema. Er hielt sich nicht daran. Er hat auch die tiefe innere Verzweiflung eines besessenen Schriftstellers gekannt vor der Unfähigkeit der Sprache, ohne etwas Wirkliches jemals ergreifen zu können. Alle Literatur ist Neuschöpfung von etwas, das insgeheim nicht durch Sprache vermittelt werden konnte.

Hier steht Kraus plötzlich, was er nicht geahnt und nicht gewünscht hätte, in der Nähe Martin Heideggers. Man wird stets zwischen dem Sein und Seiendem unterscheiden müssen. Menschen erkennen nur das Seiende, erleben nur dadurch etwas vom Sein.

Der Mann der Fackel muss es stets geahnt haben: die Unwirklichkeit aller Sprachschöpfung. Seine Folgerung war nicht das Schweigen, wie bei Wittgenstein, sondern das Weiterschreiben in dem Bewusstsein, dass es nichts „bewirken“ könne. Das musste hingenommen werden. Unerbittlich war Karl Kraus jedoch, wenn es galt, das Nichtwirkliche zu überlügen. Dann war er zur Stelle. Gerade dadurch kam er auf die Nachwelt.

Den Leuten ein X für ein U vormachen – wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugibt? K. Kraus