Gedrückte Stimmung in Nordisrael

Aus Verbündeten sind Flüchtlinge geworden. Doch die geflohenen SLA-Kämpfer wollen nicht auch noch so behandelt werden. 6.500 Libanesen sind in den vergangenen beiden Tagen über die Grenze nach Israel gekommen

METULLA taz ■ „Schau mal dort, die gelbe Fahne“, sagt Jechiel Garama zu seinem Sohn und deutet über den Stacheldrahtzaun. Dort, das ist der Ort Kela im Südlibanon, und die gelbe Fahne gehört der Hisbullah, der Partei Gottes. Kaum hatten die letzten israelischen Soldaten den Südlibanon verlassen, übernahmen Hisbullah-Anhänger die Militärcamps. „Ich bete dafür, dass wir hier einmal so offene Grenzen haben werden wie in Europa.“

Der Israeli ist an die Grenze gekommen, weil er Fremdenzimmer vermieten will – an die christlichen SLA-Milizen und ihre Angehörigen, die seit Tagen über die Grenze nach Israel flüchten. 22 Jahre lang kämpfte die SLA auf der Seite Israels. Jetzt fürchten die Milizionäre, die Hisbullah könnte sich an den „Verrätern“ rächen. Er fühle sich verpflichtet, ihnen zu helfen, erklärt Jechiel Garama, jetzt, da sie Flüchtlinge geworden sind. Heute kann Garama seine Zimmer noch nicht vermieten.

Die Flüchtlinge werden mit Bussen in Auffanglager gebracht. 6.500 Libanesen sind in den ersten zwei Tagen über die Grenze gekommen, darauf sind die Behörden nicht vorbereitet. Die israelische Armee hatte gehofft, sie würde bei ihrem Rückzug von den SLA-Einheiten gedeckt, doch die lösten sich auf, noch bevor die letzten Israelis die Grenze erreichten.

„Das war wirklich nicht organisiert“, sagt Schlomi Ochama (20), der in den letzten Wochen an der Grenze stationiert war. Der israelische Soldat erzählt von einer libanesischen Zivilistin, die am letzten Tag des Abzugs von einer Kugel im Bauch getroffen wurde. Sie sollte nach Israel ins Krankenhaus gebracht werden, doch die Grenzstraße stand voller Autos. „Vier oder fünf Stunden hat das gedauert, bis sie im Krankenhaus war, und auf dem Weg ist sie gestorben.“

Wie unvorbereitet die Israelis sind, zeigt sich 60 Kilometer weiter südlich. Hier, auf einem Schotterplatz an der Landstraße zum See Genezareth, haben sie einen Teil der SLA-Soldaten und ihre Familien gebracht. Als die Libanesen ankamen, waren längst nicht alle Zelte aufgebaut, elektrische Leitungen mussten noch verlegt werden. Mittlerweile steht fast alles: 100 dunkelgrüne Armeezelte, an der Seite eine Reihe Toilettenhäuschen.

Fadi Fadel hat die erste Nacht mit Frau und Baby im Bus übernachtet. Sechs Monate lang hätten die Israelis immer wieder gesagt, alles sei vorbereitet, alle seien willkommen, meint Fadel. Und jetzt: in einem Zelt leben, auf Schotterboden, zusammen mit fremden Familien? Und dann steigen ihm vor Zorn Tränen in die Augen. „Wir werden nicht wie die Araber leben“, echauffiert er sich: „Wir sind Libanesen.“ Keiner will in die Zelte, alle bleiben in den stickigen Bussen. Der israelischen Armee bleibt nichts übrig: Nach ein paar Stunden werden die Flüchtlinge in Kasernen verlegt. Immerhin, ein Dach über dem Kopf.

Die Grenze bei Metulla passiert jetzt keiner mehr. Entlang des Grenzzauns stehen die Autos, die die Libanesen zurücklassen mussten: Große Mercedes-Limousinen, voll gepackt mit Bündeln voller Kleider auf den Rücksitzen. Einige Scheiben sind geborsten. Die einzigen Soldaten, die zu sehen sind, prüfen den elektrischen Grenzzaun und fotografieren sich gegenseitig.

Auf der libanesischen Seite, keine fünf Meter davon entfernt, stehen Menschen um ein Auto, auf der Heckscheibe klebt das Plakat des iranischen Revolutionsführers Chomeini, in das offene Vorderfenster haben sie die gelbe Fahne der Hisbullah gesteckt. Einer der Männer zieht die Fahne heraus, kommt an den Zaun und zeigt auf die grüne Schrift: „Die Hisbullah ist der Sieger“, übersetzt der Mann.

50 Meter weiter steht Ora Shimoni am Grenzzaun. Angst hat die Israelin nicht. „They shout, but they don’t shoot.“ (Sie schreien, aber sie schießen nicht.) In der Hand hält sie Fotos, ein junger Soldat ist darauf zu sehen, ihr Sohn. Vor drei Jahren kam er im Südlibanon ums Leben. „Ich will nicht, dass noch mehr Kinder in den Krieg ziehen“, ruft sie. „Ich will in Frieden mit euch leben.“ Doch die Männer gehen nicht auf das Angebot ein. „Tötet Israel“, schreien sie und „Gott ist groß“.

CHRISTOPH SCHULT