Jede Zeit hat ihre Moral

Die Stadt Jena in der Defensive: Dürfen Straße und Kinderheim nach einem enttarnten NS-Euthanasie-Arzt heißen?

aus Jena HEIKE HAARHOFF

Ein Laut der Klage erhob sich über der Stadt. Er umhüllte die schwarz gekleidete Menge auf dem Platz vor der Kinderklinik, schwoll an, als der Trauerzug die Innenstadt von Jena durchquerte, senkte sich zu einem leisen Keuchen, als der Tross die Hügel am Stadtrand erreichte, und endete, die Gefolgschaft war auf dem Nordfriedhof angekommen, in einem tonlosen Gebrüll.

Der Mann, den sie zu Grabe trugen, hieß Jussuf Ibrahim, war 75 Jahre alt und von 1917 bis zu seinem Tod am 3. Februar 1953 Direktor der Kinderklinik der Universität Jena gewesen. Sein Tod, bezeugen Aufnahmen des Stadtarchivs, rief halb Jena auf den Plan, kilometerlang war die Menschenschlange der Trauernden; eine annähernd imposante Parade hatten zuvor weder die Nazis erzwingen können noch danach die Partei, die das Land 40 Jahre lang regieren sollte.

„Der Vater der Kinder und Helfer der Mütter“, steht auf seinem Grabstein, und treffender könnte man die Beziehung zwischen der Stadt und ihrem Arzt nicht schildern: Jussuf Ibrahim siegte über Rachitis, Tuberkulose und Diphtherie, die zu Anfang des Jahrhunderts die Säuglinge wegsterben ließen. Er lehrte die Mütter, dass sie Wasser abkochen müssen, um Infektionskrankheiten zu vermeiden. Er erklärte Spielzeug im Behandlungszimmer zum Standard und erkannte, dass Krankenschwestern, die Neugeborene pflegen, eine spezielle Ausbildung brauchen.

Ein Arzt von hervorragendem Ruf

„Professor Ibrahim ist Forscher und Arzt von hervorragendem Ruf“, heißt es im Ehrenbürgerbrief, den die Stadt Jena Jussuf Ibrahim anlässlich seines 70. Geburtstags am 27. Mai 1947 feierlich überreichte. „Professor Ibrahim war nach 1941 aktiv in die Euthanasie schwerstgeschädigter Kinder eingebunden“, heißt es im Abschlussbericht der Kommission der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihr Auftrag: Untersuchung der Beteiligung Professor Dr. Jussuf Ibrahims an der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ während der NS-Zeit. Ihr Veröffentlichungsdatum: 19. April 2000.

Seit diesem Tag ist Jena eine Stadt in der Defensive.

„Ich durchlebe da einen tief schürfenden persönlichen Konflikt“, sagt Peter Röhlinger. Die Frage ist, ob ein Mann, der laut Kommission „wissentlich und freiwillig“ schwer behinderte Kinder in den Tod schickte, Ehrenbürger einer Stadt bleiben darf. Ob es sich gut macht, wenn eine Straße nach ihm heißt. Ob es zynisch wirkt, wenn eine integrative Kindertagesstätte seinen Namen trägt. Der Stadtrat hat Entscheidungen hierüber trotz eindeutiger Aktenlage mehrfach vertagt. Konsequenzen hat bislang nur die Uni-Kinderklinik gezogen: Sie will nicht länger auf Briefköpfen und Türschildern mit Jussuf Ibrahim in Verbindung gebracht werden.

Ein persönlicher Konflikt

„Ich durchlebe da einen tief schürfenden persönlichen Konflikt.“ Peter Röhlinger ist Mitglied der FDP und Oberbürgermeister von Jena, eine in Thüringen seltene Kombination. Morgen entscheidet Jena per Stichwahl, ob Röhlinger Stadtchef bleibt oder sein Herausforderer, der Sozialdemokrat Albrecht Schröter, ihn ablöst. Jedes Wort will da gut überlegt sein. „Von außen mag das einfach zu beurteilen sein“, sagt Peter Röhlinger, „aber wir leben hier.“

Wir Jenaer, wir erinnern uns, dass Jussuf Ibrahim, der deutsche Arzt ägyptischer Herkunft, der Nichtarier, jüdische Kinder behandelte, einige von ihnen versteckte und Pastoren mit Berufsverbot in seiner Klinik predigen ließ. Wir wissen, er war kein NSDAP-Mitglied. Wir sind überzeugt, dass die behinderte Schwester unseres Bürgermeisters nur deswegen noch lebt, weil Ibrahim die Mutter damals rechtzeitig warnte.

Umso bestürzter nehmen wir Jenaer zur Kenntnis: Jussuf Ibrahim hat nach 1941 Kleinkinder ins Landeskrankenhaus im benachbarten Stadtroda überwiesen, wo Ärzte und Pfleger sie verhungern, verwahrlosen und bar jeder Therapie an Lungenentzündung oder Magen-Darm-Katarrh sterben ließen. Und er hat bereits 1931 in Lehrbüchern keinen Hehl daraus gemacht: „Wo schwere Lähmungen bestehen, die Neigung zur Entstehung eines Wasserkopfes sich bemerkbar macht, scheint es mir menschlicher zu sein, nicht mit allen Mitteln das Kind am Leben zu erhalten.“ Wir fassen es nicht und suchen nach Erklärungen: Vielleicht stand er unter Druck. Aber es gab kein Gesetz, das die Tötung Behinderter vorschrieb. Vielleicht, nein, ganz sicher entsprach die Idee vom humanen Sterben seinem medizinischen Fortschrittsdenken. Aber in Stadtroda war nichts human.

Wer Jussuf Ibrahim postum der Beihilfe zum Mord schuldig spricht, hat es dieser Tage schwer in Jena. Die Schlacht zur Ehrenrettung des verstorbenen Idols wird in den Leserbriefspalten der örtlichen Tageszeitungen ausgetragen. Wie es aussieht, sind seine Verteidiger in der Überzahl. Also formuliert der Jenaer SPD-Spitzenkandidat Albrecht Schröter vorsichtig: „Die Tötung von Menschenleben ist, unter welchen Umständen auch immer, kein Kavaliersdelikt.“

Deutlicher ist der Berliner Publizist und Historiker Götz Aly geworden; es bestehe kein Widerspruch zwischen Ibrahim, dem Arzt und aufgeklärten Laizisten, und Ibrahim, dem Mordgesellen, sagte er Anfang des Jahres. Da reisten er und der Frankfurter Euthanasieforscher Ernst Klee nach Jena und hielten Vorträge und machten publik, was in Archiven und Wissenschaftskreisen längst bekannt war. Aber Aly will auch nicht Oberbürgermeister werden.

„Er will Jena einen Dämpfer verpassen“, sagt Erika Elendt. Doch sie, die 77-jährige Rentnerin, die einst von Jussuf Ibrahim zur Kinderkrankenschwester ausgebildet wurde und aus der persönlichen Bekanntschaft mit dem Arzt die Deutungshoheit über sein Handeln beansprucht, wird das zu verhindern wissen. Fast täglich trifft sie ihre beiden ehemaligen Kolleginnen Hannelore Sippach, 74, und Brigitte Thurm, 75. Es gilt, Fotokopien von Briefen ehemaliger Patienten zu machen, die Ibrahim entlasten, und diese an die Kommission und den Stadtrat weiterzuleiten. Denn für die drei „Ibrahim-Schwestern“, als die sie sich noch heute vorstellen, steht fest, dass der Streit um Jussuf Ibrahim nur Stellvertreter für einen viel grundsätzlicheren Konflikt ist: „Jena ist eine der wenigen Städte in den neuen Ländern, die sich nach der Wende gemausert haben.“ Die Universität genießt internationalen Ruf, die Jenoptik ist dank Lothar Späth gerettet, die Informationstechnologie auf dem Vormarsch. Das alles soll nun klein gemacht werden, von Männern aus Westdeutschland wie Ernst Klee, „der hier in ausgewaschenen Jeans und mit ungekämmtem Haar auftrat. Er könnte wissen, was sich gehört.“

Nicht dass Erika Elendt oder Hannelore Sippach oder Brigitte Thurm die Echtheit der Dokumente anzweifeln würden, auf die die Kommission ihr Urteil stützt. Ibrahim konnte eben nicht anders, sagen sie. Ewig habe man „die Wasserköpfe, die Idioten, die Körper ohne Gliedmaßen, die gespaltenen Schädel und Rücken“, wie sie die Schwerstkranken heute noch nennen, ohnehin nicht in der Uniklinik behalten können. Und weigerten sich die Eltern, sie nach Hause zurückzuholen, dann habe es außer Stadtroda keine andere Unterbringung gegeben. Aber der andere Schluss, der nun daraus gezogen wird, dass nämlich der Arzt Jussuf Ibrahim Kinder in heilbare und unheilbare unterteilte und den Unheilbaren das Leben verkürzte, der passt den drei alten Frauen so gar nicht in ihr Bild von ihrem Arzt: ein Bild der Güte und Menschlichkeit. Ein Bild, das, sollte es ins Wanken geraten, auch ihre eigenen Lebenswege in Frage stellen würde.

Brigitte Thurm war als Kind und Jugendliche 18 Jahre lang immer wieder bei Ibrahim in Behandlung, bevor sie sich „aus Dankbarkeit“, wie sie sagt, entschloss, Kinderkrankenschwester zu werden. Das Mädchen litt unter Neurodermitis, Kinderlähmung und „chronischem Nichtgedeihenwollen“: „Ich gehörte nicht zu den Menschen, die von den Nazis als überlebenswert eingestuft wurden.“ Was aber, wenn Jussuf Ibrahim nur zufällig in ihrem Fall das Gegenteil behauptete? Müsste sie sich dann nicht schuldig fühlen für die vielen, die statt ihrer in Stadtroda umkamen?

Ein Opfer für den Kindermörder

Erika Elendt und Hannelore Sippach heirateten beide erst spät. „Die Klinik verlangte in den ersten Jahren ja unseren ganzen Einsatz.“ Bringt man ein solches Opfer einem Kindermörder? Haben sie alles falsch gemacht? Das kann nicht sein, das geht nicht, es ist alles viel zu schrecklich, es war die Zeit.

Es war die Zeit, sagt auch Professor Erich Häßler, und das hätte er den Historikern Klee und Aly auch persönlich gesagt. Aber weil Häßler in den 40er-Jahren an der Leipziger Universitätskinderklinik Stellvertreter von Werner Catel war, einem der Chefgutachter der NS-Kindereuthanasie, und weil er in den 50er-Jahren Ibrahims Nachfolger wurde, haben sie ihn zum Täter erklärt, mit dem zu reden sich nicht lohne.

Häßler, ein Greis in Jogginghose und Wollpullover, empfängt seinen Besuch in einem umgebauten Wochenendhäuschen am Stadtrand. „Wenn Sie mich fragen, der Ibrahim hat es aus der Not heraus getan.“ Und er selbst? Hat er? Wusste er? Und wenn ja, warum hat er geschwiegen? „Es gibt Fälle, wo ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende.“ Erich Häßler ist 101 Jahre alt. Er hat das Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, Hitler-Deutschland, den Zweiten Weltkrieg, die DDR und den Mauerfall erlebt. Erich Häßler weiß um Aufstieg und Fall von Systemen und Werten. Er weiß, dass er seine nicht mehr wird vermitteln können. Einem, der Sterbehilfe zur Nazizeit propagierte, wird nicht geglaubt. „Jede Zeit hat ihre Moral“, sagt Erich Häßler zum Abschied.

Noch 1991 hinderte das den Stadtrat nicht daran, sechs ehemaligen SED-Parteifunktionären die Ehrenbürgerschaft aus politischen Gründen abzuerkennen. Aber bei Ibrahim, sagt Wolfram Gruner, verhält es sich anders. Sein Name ist Zeitungslesern in Jena wohl bekannt, Wolfram Gruner ist ein fleißiger Briefeschreiber. Nicht dass er irgendeinen persönlichen Bezug zu Ibrahim hätte: „Ich bin erst Anfang der 50er-Jahre wegen des Physikstudiums aus Dresden nach Jena gekommen.“ Und Ehrenbürger kümmerten den rüstigen Rentner bislang herzlich wenig. Doch der Stil der Debatte um Jussuf Ibrahim passt Wolfram Gruner nicht: „Was die uns da vorlegen, ist nicht wissenschaftlich.“ Die Kommission setze Ibrahims „Nicht-verhindert-Haben“ mit „Getanhaben“ gleich, was am Ergebnis und am Tod der Kinder zwar nichts ändert, ihm aber ein Beweis dafür ist, dass es die Komission in anderen Dingen vielleicht auch nicht so genau nimmt. Zudem hätten die Gutachter mit keinem Wort erwähnt, dass Ibrahim unter einem totalitären System tätig war. „Wissen Sie, was das heißt!“, ruft Wolfram Gruner. „Ich hatte die Gelegenheit, 40 Jahre lang ein totalitäres System bewusst zu erleben.“ Es bedeutet, sagt er, dass Menschen in vorauseilendem Gehorsam handeln. Das, sagt Wolfram Gruner, müsse bei einem Urteil über Ibrahim berücksichtigt werden. Denn längst geht es nicht mehr nur um den Arzt. Was, wenn nach diesem Muster nun Vergangenheit Stück für Stück aufgearbeitet wird? Wie werden kommende Generationen dann in 50 Jahren über Menschen in der DDR richten?

Neulich hat Wolfram Gruner wieder geschrieben, diesmal an den Stadtrat: „Auf der Anklagebank sitzt nicht nur Professor Ibrahim, sondern mit ihm die ganze Stadt Jena, welche einer ,Legende‘ aufgesessen sein soll.“