Die ÖTV-Basis rüstet zum Streik

Die Ziele für den Arbeitskampf sind klar: Mindestens 2 Prozent mehr Lohn und einen Stufenplan zur 100-prozentigen Angleichung der Ostgehälter

aus Berlin BARBARA DRIBBUSCH

Stinkende Müllberge, geschlossene Kindertagesstätten und stillstehende U-Bahnen: Die Bevölkerung muss sich höchstwahrscheinlich auf einen Streik im öffentlichen Dienst einstellen. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat gestern abgelehnt, das Arbeitgeberangebot zu erhöhen, um doch noch einen Arbeitskampf zu vermeiden. Die Gewerkschaften ÖTV und DAG wollen jetzt in den nächsten Tagen Urabstimmungen über einen Streik einleiten. Nach Pfingsten könnte es dann zu ersten Arbeitskampfmaßnahmen kommen.

Im Streit um Tariferhöhungen für die 3,1 Millionen Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst hatten die Schlichter einen Vorschlag gemacht, der am Dienstag von den Großen Tarifkommissionen der Gewerkschaften ÖTV und DAG abgelehnt wurde. Der Schiedsspruch sah vor, die Löhne und Gehälter rückwirkend zum 1. April um 1,8 Prozent zu erhöhen. Ein Jahr später sollten weitere 2,2 Prozent für zwölf Monate folgen. Die Osteinkommen sollten von derzeit 86,5 Prozent auf 90 Prozent im Jahre 2002 angehoben werden.

Die Gewerkschaft fordert jedoch einen Stufenplan für die 100-prozentige Angleichung der Ostgehälter. Auch will die ÖTV für die Tarife eine mindestens 2-prozentige Steigerung im ersten Jahr durchsetzen. Das Argument: In anderen Branchen wie etwa der Metall- und Chemieindustrie steigen die Löhne um 3 beziehungsweise 2,2 Prozent in diesem Jahr. Davon dürfe der öffentliche Dienst nicht abgekoppelt werden (siehe Interview).

Die Weigerung der Großen Tarifkommission, das Arbeitgeberangebot aus dem Schlichterspruch nicht zu akzeptieren, kam überraschend. Denn zuvor hatte der Chef der Gewerkschaft ÖTV, Herbert Mai, der Tarifkommission empfohlen, das Angebot anzunehmen. Die Mitglieder der ÖTV-Tarifkommission hatten jedoch in Rücksprache mit den Kreisverbänden der Gewerkschaft beschlossen, die Offerte zurückzuweisen. Damit wird der Unmut der Basis deutlich: Die Gewerkschaftsmitglieder wollen mehr Geld sehen.

Beobachter diagnostizierten denn auch gleich eine Führungskrise der ÖTV. „Im Grunde ist nicht klar, wer die ÖTV im Augenblich führt“, sagte ein leitendes Gewerkschaftsmitglied, „es gibt ein Machtvakuum.“ ÖTV-Chef Mai jedoch bezeichnet es als „demokratisch“, dass die Basis seiner Empfehlung nicht folgte und den Schiedspruch ablehnte. Bundeskanzler Gerhard Schröder appellierte unterdessen an die Gewerkschaften, Streiks abzuwenden. Sie passten nicht in die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. „Das ist eine Bitte“, sagte Schröder.

Selbst wenn in den nächsten Tagen die Urabstimmung beginnt, könnten die Arbeitgeber jederzeit durch ein neues Angebot einen Streik noch abwenden. Innenminister Otto Schily (SPD) hob jedoch hervor, der Schiedsspruch liege schon nahe der Tariferhöhung in der Chemieindustrie und höher als der Abschluss der Baubranche in diesem Jahr. Mehr sei nicht drin.

Bei den Urabstimmungen von ÖTV und DAG müssen 75 beziehungsweise 70 Prozent der Mitglieder für einen Arbeitskampf stimmen. Es gilt als wahrscheinlich, dass dieses Ergebnis erreicht wird.

Zuletzt hatte die ÖTV im Jahre 1992 gestreikt. Der Arbeitskampf kostete zwischen 100 und 150 Millionen Mark und dauerte elf Tage. Dabei legten mehrere hunderttausend Beschäftigte die Arbeit nieder, Busse und Bahnen standen still, der Müll blieb liegen. Danach einigten sich die Tarifpartner auf 5,4 Prozent mehr Gehalt. Die Basis der ÖTV war jedoch nicht einverstanden, in einer Urabstimmung wurde keine Mehrheit für eine Beendigung des Streiks erreicht. Die damalige ÖTV-Spitze unter Führung von Chefin Monika Wulf-Mathies setzte das Ergebnis dennoch durch.

Nach einem dreitägigen Streik im Februar 1974 konnte die ÖTV noch mehr Lohnprozente einfahren: Man einigte sich damals auf ein Plus von 11 Prozent mehr Lohn. Doch diese Zeiten sind lange vorbei.

MIT INFORMATIONEN VON DPA