Leiden am Leitbild Europäische Stadt

Während die Nische Westberlin ein Laboratorium war, ist die Hauptstadt Vorreiter des Architainments geworden. Letzter Teil der Serie „Arche WB“

von WERNER SEWING

„Hurra Berlin“ – was die FAZ noch 1998 mit unverhohlener Ironie als Motto einer „Generation Berlin“ in einer neuen Mitte mit neuer Architektur ausmachte, ist mittlerweile zum medial verbürgten Lebensgefühl der Stadt geworden. In der nun dreigeteilten Stadt wurde die neue Mitte gegenüber den stagnierdenden Ost- und Westhälften zum Ort des Metropolendiskurses erkoren: Filmed on location.

Adlon, Reichstagskuppel und Potsdamer Platz sind zu neuen Ikonen eines Touristenvolks geworden, das überraschend hauptstadtsüchtig den Signalen der Medien folgt. Zwischen Checkpoint Charlie und Kollwitzplatz hat sich das neue Deutschland seine metropolitane Projektionsfläche geschaffen. Sollte Berlin zur ersten medial generierten Stadt des neuen Jahrtausends in Europa werden?

Eine Voraussetzung der symbolischen und realen Besetzung der Mitte war die Abwicklung des Ostens. In der Architektur, dem zunächst einzigen neuen Imageproduzenten nach der Vereinigung, wurde die Idee des wilhelminischen Berlin gegen Platte und Ahornblatt in Anschlag gebracht. Westberliner Architekten-Veteranen kolonisierten die Mitte mittels „Kritischer Rekonstruktion“ und preußischem Stil.

Gewiss: Wie Hans Wolfgang Hoffmann in dieser Serie treffend bemerkt war dies eine rückwärts gewandte, an historisch überkommenen Formen und nicht an neuen Inhalten orientierte Strategie. Die städtebauliche Botschaft der neuen Hauptstadt ist eindeutig: Back to the Future? Nur was ist daran so typisch für die alte Mauerstadt, das selige Westberlin? Ein Verständnis der städtebaulichen Entwicklung der letzten zehn Jahre wird nicht gefördert, wenn Architekturkritik als Teil der mit zehn Jahren Verspätung daherkommenden Abrechnung mit Westberlin erscheint.

Heute verkörpert das Schloss als Identitätskrücke den miefigen Konsens der medial erzeugten Hauptstadt, deren Eros, so Klaus Hartung in der Zeit, der „Eros der Macht“ sei. Diesem Eros gilt die städtische Tugend der Kritik nicht mehr als urban und als nicht gesellschaftsfähig in den tantenhaften Salons der Neuberliner Parvenüs.

Kritiker des Schlossaufbaus werden mittlerweile als bloße Einwohner, aber nicht als Bürger der Stadt in die Ecke gestellt. Die politische Kultur der Hauptstadt begreift das vom Planwerk Innenstadt lancierte alt-neue Ideal des Stadtbürgertums als lokalpatriotische Bekenntnisgemeinschaft. Im neuen Berlin gilt also: Geschichte als Lebenslüge, nicht kollektives Gedächtnis, eher kollektive Amnesie.

Die Befreiung aus diesem Muff wird nicht mit einer Erledigung des Sündenbocks Westberlin gelingen. Aber versuchen wir uns zu erinnern: Die Internationale Bauaustellung von 1979 bis 1987 ist tatsächlich personell wie konzeptionell die Basis der heutigen Architekturpolitik des Senats. Dennoch ist die „kritische Rekonstruktion“ kein Produkt der Frontstadt, sondern lediglich die Anwendung der Gedanken des italienischen Architekten Aldo Rossis durch Josef Paul Kleihues, den Kopf der IBA.

Rossis Buch „Die Architektur der Stadt“ von 1966 hatte die Wiederentdeckung der durch die Moderne entwerteten historischen Stadt eingeleitet: Block, Parzelle, historischer Stadtgrundriss und die historischen Monumente wurden seitdem als Garanten für kollektives Gedächtnis und städtische Identität zum städtebaulichen Credo, dem die Brüder Krier, Maurice Culot, Bernard Huet und andere postmoderne Theoretiker Geltung verschafften. Dieser Kanon gilt noch, auch nach dem frühen Ende der postmodernen Architektur in den Achtzigerjahren.

Die Kunstwelt Berlin mit ihrem unerschöpflichen Subventionstopf erwies sich seit den 70ern als das Laboratorium dieser neu-alten Stadtvision: Geschichte wurde wieder zum Bezugspunkt des Bauens, sowohl im IBA-Neubau in der südlichen Friedrichstadt als auch in der Rettung der Stadt der Gründerzeit in Kreuzberg. Gerade hier war es, typisch wieder für ganz Europa, zum Schulterschluss der städtischen sozialen Bewegungen und der Planer gegen den Flächenkahlschlag gekommen.

Hier wurde aber auch früh deutlich, dass das Ideal der Europäischen Stadt ein formales, ein ästhetisches und kein soziales und politisches darstellte. Was Kleihues in seiner Ablehnung jeglicher Bürgerbeteiligung immer unmissverständlich klar gemacht hatte. Tatsächlich wurde die Neubau-IBA zur Bühne der Architekturstars und zum Vorreiter des heute allgemein praktizierten Architainments. Gerade die Nischenexistenz Berlins ermöglichte diese Experimente in Sachen „Festivalisierung“.

Nachdem die sozialen Bewegungen bereits in den 80ern im Kiez versackt schienen, konnte sich in den 90ern die intellektuelle Substanz des Leitbilds Europäische Stadt, als kultureller Konservatismus und als simulative Stadtinszenierung entfalten. Was als anspruchsvoller Versuch in den 60ern begonnen hatte, Geschichte wieder als lebendigen Bezugspunkt zukunftsoffen aufzugreifen, stellte sich nun als konservativer Revisionsversuch der Baugeschichte heraus. Der spielerisch-elitäre Postmodernismus der IBA wich einem verbiesterten, kaum noch nachvollziehbaren Hass auf die längst Geschichte gewordene Nachkriegsmoderne. Macht ja, aber Eros?

Wie es die Ironie der Geschichte will, ähnelt das neue Berlin eben den Stadtinszenierungen, wie sie nun überall auf der Welt die Städte als Themenparks zu Touristenattraktionen stilisieren: Die Kinder von Disney entdecken ihre Wahlverwandschaft mit den Kindern Rossis.

Von der Friedrichstraße über den Pariser bis hin zum Potsdamer Platz ist eben die Simulation von Stadt entstanden, die von den Propheten der Europäischen Stadt als amerikanisch verteufelt worden war. Man wollte Städter und bekam Touristen. In einer Welt städtischer Großräume, in der Familien, also Kinder, vorwiegend in den Vorstädten leben, wird Stadt immer weniger als gelebte Realität und immer mehr als bloße Bühne für die Szenen der geflüchteten Vorstadtkinder erfahrbar.

Auch hier erwies sich die „Berliner Simulation“, so Bodo Morshäuser in den 80ern, der Berliner Festspielestadt als Vorreiter der heutigen Hauptstadtkultur. Heute stricken junge Journalisten und Politiker am Mythos von Mitte, in der irrigen Annahme, wo Mitte draufsteht, müsse sie auch auch drin sein. Diese Arbeit am Mythos würden Stadtsoziologen profan als Gentrifizierung, als den räumlichen Sozialdarwinismus der Lebensstile und Einkommensklassen benennen.

Auch wenn Architekturkritik nicht sozial motiviert ist, so ist das Leiden am Leitbild der Europäischen Stadt sehr wohl auf das Fehlen eines gesellschaftlichen Begriffs von Stadt zurückzuführen, der nicht rückwärts gewandt ist. Die Visionen sind alle von gestern, die architektonische Zukunft ist bereits Gegenwart und sieht nicht nur am Gendarmenmarkt beunruhigend alt aus. Nur: Auch dafür ist Westberlin nicht verantwortlich.

Hinweis:Adlon und Reichstagskuppel sind zu neuen Ikonen eines Touristenvolks geworden, das hauptstadtsüchtig den Signalen der Medien folgt