Reden, schwallen, ablenken

Irgendwann ist alles einfach merkwürdig: Gabriel Josipovicis Gesprächsroman „Jetzt“

„Ich weiß“, sagt einmal eine der Figuren dieses merkwürdigen und bemerkenswerten Romans, „was nichts ausmacht, aber ich bin nicht so sicher, was etwas ausmacht.“ Und an anderer Stelle wird die Frage „Hast du wirklich alles, was du brauchst?“ mit dem deprimierenden Satz beantwortet: „Keiner hat alles, was er braucht.“

Damit sind die beiden Kraftfelder benannt, aus denen Gabriel Josipovicis Roman „Jetzt“ seine Energie bezieht – vage Orientierungslosigkeit nämlich und ein diffuses Mangelgefühl innerhalb eines saturierten Lebenszusammenhangs. Josipovici, Jahrgang 1940, konstruiert das Porträt einer jüdischen, englischen Intellektuellenfamilie, in der trotz beziehungsweise wegen eines engen familiären Zusammenhalts Neurosen, Gleichgültigkeit und Ehebruch blühen.

Dabei verzichtet der Autor fast vollständig auf Beschreibungen; hier wird nicht erzählt, sondern gesprochen – genauer gesagt: geredet. Der Roman besteht aus einer Collage kurzer Gespräche zwischen den diversen Familienmitgliedern, eine Art minimal fiction, die in ihrer fast musikalischen Struktur an die Kompositionen etwa eines Philipp Glass erinnern. Man muss sehr genau hineinhorchen in diesen nur scheinbar beiläufigen Wortschwall, in dieses unendliche Gerede aus Nebensächlichkeiten, in diesen entfesselten, familiären Smalltalk, um die sich darunter abzeichnende marode Familienstruktur zu erkennen.

„Man redet nicht miteinander“, heißt es einmal, „um sich interessante Dinge zu erzählen.“ Geredet wird hier vielmehr, um von den Alltagskatastrophen abzulenken, um die Probleme unter einen Teppich aus Banalitäten zu kehren und vom Jetzt, vom Moment lebendiger Gegenwart abzulenken. Daher der Titel des Romans, der auch „Die zerquatschte Gegenwart“ oder „Der zerlaberte Augenblick“ heißen könnte. Gelegentlich taucht dabei ein Bewusstsein auf, dass diese Form des Geredes eben nicht Kommunikation herstellt, sondern zerstört, wenn es heißt: „Ein Gespräch kann noch so normal anfangen, irgendwann kommt immer der Punkt, an dem uns plötzlich alles komisch vorkommt, aber trotzdem reden wir dann weiter und tun auch noch so, als hätten wir nichts gemerkt.“

Josipovicis Buch ist traurig und zugleich von beißender Komik, erinnert gelegentlich an die Wortopern eines William Gaddis, häufiger an die absurden Dialoge eines Samuel Beckett. Dies Buch, vom Verleger Gerd Haffmans persönlich übersetzt, und zwar so reibungslos gut übersetzt, dass alle Rede genauso gut die einer deutschen Familie sein könnte, ist auch auf eine merkwürdige Weise unheimlich, weil es sich verdächtig leicht liest und zugleich den Leser in tiefes Unbehagen stürzt, wenn er seine eigenen, nichts sagenden Redefiguren wiedererkennt. Über dies Gefühl des Unheimlichen bemerkt eine Romanfigur treffend und sozusagen pro domo des gesamten Textes: „Manchmal gefällt einem etwas, was einem gleichzeitig nicht gefällt. Manchmal ist einem etwas unheimlich, aber man merkt, dass einem lieber unheimlich ist, als dass man gar nichts spürt.“ KLAUS MODICK

Gabriel Josipovici: „Jetzt“. Aus dem Englischen von Gerd Haffmans. Haffmans Verlag, Zürich 2000. 253 Seiten, 39,80 DM