„Stimulanz für eine neue Moral“

Für Richard Schröder, den Vorsitzenden des Kuratoriums der Expo 2000, gibt es kein menschliches Überleben ohne Industrie und Technik

Interview BASCHA MIKA
und JÖRG HERRMANN

taz: Herr Schröder, was treibt einen Theologen auf die Weltausstellung?

Richard Schröder: Ich habe ja eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Theologie und Philosophie. Das ist, glaube ich, eine ganz gute Voraussetzung für die Aufgabe, die dem Kuratorium gestellt war. Wir haben den Prozess organisiert, der zur Findung und Ausgestaltung der Themen führte. Als wir im Dezember 1995 anfingen, haben die Macher noch völlig geschwommen.

Hat das Kuratorium mehr geliefert als die intellektuelle Begleitmusik?

Wir haben der Expo-Gesellschaft sozusagen für den Themenpark das Drehbuch geliefert.

Sie selbst haben im Kuratorium die Patenschaft für den Komplex „Mensch“ übernommen. Welches Menschenbild schwebte Ihnen denn vor?

Die ersten Konzepte, die uns vorgelegt wurden, waren rein naturwissenschaftlich orientiert. Sie wirkten wie verchromt, um die Dimensionen von Schuld, Schicksal und Tragik bereinigt. Wenn mein Kind weint und ich das naturwissenschaftlich erkläre – eine salzige Flüssigkeit wird aus Tränendrüsen abgesondert –, habe ich vom Weinen nichts verstanden und werde meinem Kind auch nicht helfen können. Es sind nicht die Naturwissenschaften, die das Entscheidende über den Menschen zu sagen haben.

Und was bedeutet das für das Thema der Expo, das Verhältnis des Menschen zu Natur und Technik?

Es gibt eine Gedenkmünze für die Weltausstellung. Sie zeigt eine weibliche Gestalt mit einer Waage: links die Sonne, rechts das Rad. Gemeint ist die Menschheit, die einerseits ein Gestaltungs-, andererseits ein Erhaltungsinteresse hat. Das Verhältnis zwischen beiden sollte ausgewogen sein. Das ist ja auch mit dem der „Agenda 21“ [Abschlussdokument der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro, 1992; die Red.] entnommenen Begriff der Nachhaltigkeit gemeint, an dem sich die Expo orientiert.

Vielleicht theoretisch. Die Zeitschrift Kapital schrieb: „Bei der Expo entscheidet die Industrie.“ Nachhaltigkeit liegt nicht gerade in deren Interesse.

Es sei denn, die Kunden fordern es und es lässt sich damit etwas verdienen! Ein industriefeindlicher Zug konnte nicht unsere Politik sein. Die Industrie musste mit ins Boot genommen werden. Es geht dabei immer um Kompromisse, und die haben wir gemacht.

Zum Beispiel?

Im Kuratorium haben wir einen Naturschützer. Der hat einen Dauerkampf gegen Getränkebüchsen und Einwegflasche geführt. Er ist damit nicht durchgekommen, hat aber eine Reduzierung erreicht. Das ist irgendwie symptomatisch, aber wie soll es auch anders sein? Die Expo-Gesellschaft macht einen Vertrag mit Coca-Cola, weil die Firma als Partner gebraucht wird. Man kann dem Konzern dann nur etwas abhandeln, aber nicht die Bedingungen diktieren.

Warum dann nicht gleich eine Industrie- und Handelsschau ohne ökologischen Zuckerguss?

Ich halte nichts von der Trennung zwischen lieben Naturfreunden und böser Industrie. Wir haben inzwischen gemerkt, dass unser Handeln als Menschen erwünschte Folgen und unerwünschte Nebenfolgen erzeugt. Nach und nach hat auch die Industrie das wahrgenommen. Ob sie auch wahrnimmt, was eigentlich getan werden sollte, ist eine andere Frage.

Aber um Lösungen für die Zukunft soll es doch angeblich auf der Expo gehen.

Es gibt überhaupt kein menschliches Überleben ohne sehr viel Industrie und Technik. Fast jede umweltfreundliche Technologie ist komplizierter als die aus der Zeit der Gründerjahre. Wenn wir Wissenschaftler und Techniker nicht einbeziehen, sind wir Romantiker. Und Naturromantik lässt sich natürlich am besten in den Nischen einer hochindustrialisierten Gesellschaft leben.

Es geht nicht um Romantik, es geht um Ideologie. Die Expo ist in eine Sinnkrise geraten: Niemand braucht mehr eine Weltausstellung, um sich über technische Neuerungen zu informieren. Also muss man der Industrieschau ein neues Image verpassen.

Was ist denn eine Industrieschau? Eine Zusammenstellung der neuesten Produkte, unabhängig von ihrer Sinn- und Zweckhaftigkeit. Das ist hier nicht passiert. Früher waren die Weltausstellungen Heerschauen der technischen Arsenale, weil man noch der Meinung war, dass die Technik unser Machtmittel ist, um uns die Natur zu unterwerfen. Inzwischen sind wir klüger . . .

. . . was zur Folge hat, dass Expo-Chefin Breuel schon wie eine Kirchentagspräsidentin von „Wegen aus der Konsumgesellschaft“, vom „Teilen mit allen Erdenbürgern“ und vom „Interesse noch nicht geborener Generationen“ spricht.

Sie sind wohl für Aufgabenteilung: Die Expo ist die Industrieschau und der Kirchentag das Nachdenken. Man achtet darauf, dass diejenigen, die produzieren und konsumieren, mit dem Nachdenken nicht in Berührung kommen.

Nein, aber darauf, dass man der Öffentlichkeit nichts vormacht.

Was heißt denn bitte etwas vormachen?

Dass man die Ziele einer solchen Ausstellung nicht mit ein bisschen Kirchentag ideologisch verbrämt.

Das ist doch Johannes der Täufer pur. Der gab sich auch so radikal, haute auf den Putz und predigte das große Gericht: Die Axt ist den Bäumen schon an die Wurzel gelegt. Es mag ja Situationen geben, in denen dieser Ton angebracht ist. Aber für politisch-wirtschaftliche Prozesse halte ich ihn für völlig verfehlt. Die Expo soll ja eine Technikschau sein – aber die einer lernfähigen Technik, bezogen auf die anstehenden Probleme.

Frau Breuel will außerdem eine „zukunftsfähige Moral“ präsentieren. Was sollen wir uns denn darunter vorstellen?

Das darf sicher nicht so verstanden werden, dass da ein Moralkodex formuliert wird. Die Expo bietet jedoch Stimulanzen zu einer neuen Moral. Durch die Begegnung mit anderen Menschen und anderen Kulturen – und mit den Zukunftsproblemen.

Die Expo soll also zur Globalisierung der Moral beitragen?

Ja! Es muss neben dem lokalen ein globales Wir-Bewusstsein geben. Die Klimakatastrophe etwa würde sich für den Unterschied der Kontinente oder Nationen überhaupt nicht interessieren.

Ist das moralische Anliegen, das die Expo vor sich herträgt, die Rechtfertigung für die christlichen Kirchen, sich mit einem ökumenischen Pavillon zu beteiligen? Sie waren seit 1967 nicht mehr dabei.

Wenn viele Leute zusammenkommen, kann die Kirche eine Gelegenheit zur Begegnung und zur Diskussion christlicher Themen bieten. Was ist daran jetzt verkehrt? Der Islam wird sich übrigens auch in entsprechenden Länderpavillons präsentieren.

Seit Jahren spart die Kirche an allen Ecken und Enden, während sie sich den Pavillon an die 20 Millionen Mark kosten lässt. Teurer Drang zur Selbstdarstellung. Wie passt das zu den sozialen Anliegen der Kirchen?

Kommen Sie mir nicht mit dem Fanatismus des sozialen Arguments. Damit können Sie jedes Fest, ja jedes Konzert in Frage stellen. Nach dem Motto: Man sollte das Geld lieber den Armen geben. Besondere Ereignisse rechtfertigen einen besonderen Einsatz, auch bei der Kirche. Im Übrigen wird der Pavillon nach der Expo in den Wiederaufbau einer Klosteranlage integriert.

Und wo ist Gott auf der Expo?

Meinen Sie, dass er dort zur Besichtigung herumsteht wie ein Schrank?

Angeblich kann er ja überall sein.

So ist es. Wo Menschen zu der Einsicht kommen, dass es sich lohnt, gefasst und zuversichtlich in die Zukunft zu sehen, wo Menschen erkennen, dass sie dafür auch etwas tun müssen, aber dabei nicht allein stehen – wo das geschieht, ist Gott im Spiel.