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Plastische Chirurgen mit Hafterfahrung, Krankenschwestern wider Willen und die verbotene Liebe zu deutschen Schäferhündinnen: Vom Überleben im Lager – drei Fallstudien zwischen Kolyma, Moskau, Iowa-City und Berlin-Neukölln

von HELMUT HÖGE

1. Basierend auf Solschenizyns „Archipel GuLAG“ erscheinen jetzt nach und nach jede Menge Detailstudien über die sowjetischen Arbeitslager, teilweise herausgegeben von der Moskauer Gruppe „Memorial“. In der Juni-Ausgabe (Nr. 15) der New York Review of Books hat Anne Applebaum gleich sieben davon rezensiert. Auf Deutsch erschienen soeben die hervorragenden Gulag-Erinnerungen von Janusz Bardach. Der jüdisch-polnische Autor geriet als junger Mann bei der Teilung Polens in eine Art Zwischenzone. Er konnte sich jedoch – als einziger aus seiner Familie – in die UdSSR durchschlagen. Dort wurde er Soldat der Roten Armee. Wegen Sabotage an einem Panzer wollte man ihn erschießen. Ein jüdischer KGB-Offizier, der Bardachs Großvater in Odessa kannte, schaffte es jedoch, die Todesstrafe in zehn Jahre Arbeitslager umzuwandeln. Janusz Bardach kam nach Kolyma. Bevor die Arbeit ihn dort zugrunde richtete, gelang es ihm, eine Stelle im Lagerkrankenhaus zu ergattern. Er wurde Krankenpfleger. Aus Gesundheitsgründen wechselte er von der TB- auf die Psychiatrie-Station, wobei er zu einer Art KGB-Helfer aufrückte. Mit Hilfe seines Bruders kam er schließlich vorzeitig aus der Haft und begann ein Medizinstudium in Moskau. Von dort wechselte er später als plastischer Chirurg erst nach Lodz und dann nach Iowa-City, wo er heute noch lebt. Nachdem er sich dort zur Ruhe gesetzt hatte, schrieb er mit Hilfe von Kathleen Gleeson seine Gulag-Erinnerungen auf, die in der University of California Press erschienen – und nun bei dtv premium unter dem Titel „Der Mensch ist des Menschen Wolf“.

2. Eine ähnlich wölfische Geschichte berichtete mir die sibirisch-jüdische Prostituierte Ira. Im Februar hatte ich ihr 60 DM geliehen, die sie dringend zum Bezahlen von Schulden brauchte, sonst drohte ihr Beugehaft. Tatsächlich hatte sie jedoch 560 DM zu bezahlen – für Falschparken und ähnliche Bußgelder. Man schaffte sie in ein „Arbeitslager“ irgendwo in Neukölln – für vier Monate. Sie verlor ihre Wohnung, ihre Habseligkeiten wurden eingelagert, ihr Hund kam in ein Tierasyl. Im Lager arbeitete sie zunächst in der Gärtnerei, dann in der Küche, wo für ein Gefängnis nebendran gekocht wurde. Etwa 200 Insassen befanden sich ständig im Lager: Das waren laut Ira keine Kriminellen, auch keine Asozialen, sondern „Aggressive – es war wie in einem Wolfskäfig. Selbst wenn jemand ein Handy hatte, hat er das nicht verliehen!“ Das Lager hatte eine Krankenstation, mit einem Arzt und einer Schwester. Die Insassen wurden alle auf Aids und andere ansteckende Krankheiten untersucht. Irgendwann wurde die Krankenschwester krank und fiel aus. Ira sprach zwar wenig Deutsch, war aber gelernte Krankenschwester. Deswegen wurde sie kurzerhand vom Arzt eingestellt. Der Job gefiel ihr, hauptsächlich musste sie Spritzen geben. Sie machte Überstunden und war so gut, dass man sie schließlich einen Monat früher entließ. Ihre Habseligkeiten waren jedoch in der Zwischenzeit abhanden gekommen: Man hatte sie nur für ein paar Tage eingelagert gehabt. Auch ihr geliebter Hund war weg: Der Leiter der Sammelstelle hatte ihn nicht ins Tierheim gegeben, sondern seiner Enkelin geschenkt. Ira drohte ihm erst mit der Russen-Mafia, die seine Enkelin mitsamt Hund entführen würde, und dann mit seinem Chef. Der sorgte dann dafür, dass Ira schließlich ihren Hund doch wieder bekam. „Nun muss ich zwar wieder bei Null anfangen, aber immerhin habe ich wertvolle Erfahrungen gesammelt“, meinte sie zuversichtlich – und stürzte sich sogleich wieder ins prostitutive Nachtleben. Sie brauchte dringend Geld, um ihre kranke Mutter in Omsk zu besuchen, hatte aber ihre ganzen Papiere verloren. Für solche Fälle, insbesondere für Russinnen, deren Touristenvisum abgelaufen ist, gibt es inzwischen eine deutsche Schlepperbande. Sie schleusen die Frauen – für 700 bis 1.000 DM – heimlich über die Oder-Neiße nach Osten. Würden sie offiziell die Grenze passieren, bekämen sie auf ewig ein Wiedereinreiseverbot verpasst. Ira will jedoch wieder zurück nach Berlin: „Hier habe ich doch meinen Hund!“

Zwar bleibt noch einiges an ihrem Lager-Abenteuer unklar (z. B.: Hatte sie nicht doch mehr Schulden als nur 560 DM? Und: Dürfen Krankenschwestern überhaupt Spritzen geben?), aber über die Pressestelle des Senators für Justiz ließ sich schon mal klären: Bei dem „Arbeitslager“ handelt es sich um die Berliner Justizvollzugsanstalt für Frauen. Diese hat vier Bereiche, die alle „Haftsituationen“ umfassen, das Lager von Ira heißt im Amtsdeutsch „Bereich Neukölln, Neuwedeller Str. 4“.

3. Vor ein paar Wochen berichtete ich in der taz über den laut Tagesspiegel illegal aus Sibirien eingewanderten, dreibeinigen Wolf „Iwan“, der nun offiziell auf den russisch-jüdischen Namen „Naum“ hört und in einem Eberswalder „Wolfsgehege“ inhaftiert ist, wo er sich jedoch mit dem dort lebenslänglich konzentrierten Wolfsrudel noch immer nicht versteht. Bevor man ihn schnappte, hatte er sich mit der deutschen Schäferhündin „Xena“ im Wald vergnügt – und war dabei sogar gefilmt worden. Xena gebar anschließend acht Welpen. Mehrere „Wolfs-Experten“ der Bild-Zeitung rieten daraufhin, diese „Mischlinge“ sofort zu töten, da sie für immer „unberechenbar“ bleiben würden. Demgegenüber erklärte der Präsident des Landesumweltamtes, Frank Plücken, die „Halbwölfe“ stünden unter Artenschutz, was bedeute, dass sie weder vermarktet noch privat gehalten werden dürften. Ein Gentest ergab nun, dass nicht Naum, sondern ein doofer märkischer Nachbarhund namens Rex der Vater war – so dass es sich bei den acht Welpen um quasi rein deutsche Schäferhunde handelt. Und die dürfen jetzt natürlich – ruckzuck – eingeschläfert werden. Amtlicherseits bestehen jedenfalls keine Bedenken. Ja, es hat wirklich eine Wende stattgefunden – seit 1945! Ich würde sogar von einer regelrechten Umwertung aller Werte sprechen.