Gefährliche Hauspantoffeln

Wahre Lokale (26): Das elegante „Viktor“ in Augsburg fördert den Hang zur Faulheit

Manchmal frage ich mich, wie viel Zeit meines Lebens ich in Lokalen verbracht habe. Und wie es aussehen würde, wenn man alle Gläser, die ich hatte, in Reihe stellt. Nur so. Und wie viel Moos ich wohl dort gelassen habe? Das weiß ich ziemlich genau. Wenn man alle Münzen und Scheine in einen Sack füllen würde, der mir von der Decke auf den Kopf fällt, dann wäre ich tot. Aber wenn ich’s nicht getan hätte, wäre ich sicher schon lange tot.

Seit fünf Jahren lebe ich in einer außergewöhnlichen Situation, und fast alle Leute, die uns zum ersten Mal besuchen, sind begeistert. Ihr habt ja eine Kneipe gleich im Haus! (Als hätte man das Ziel gehabt und es damit endlich, endlich erreicht, nie wieder raus zu müssen). Und so einen schönen kleinen Biergarten! Dann die entscheidende Frage: Ist es denn gut da?

Du willst noch unter Menschen sein, aber ...

Das ist es ja, dass es gut da ist, im „Viktor“ in Augsburgs Bismarckviertel, täglich von 18 bis 1 Uhr, und deshalb ist es für mich auch ein gefährlicher Ort eigentlich. Du hast das beste Lokal vom Viertel und eins der angenehmsten der Stadt im Haus. Das fördert den Hang zur Faulheit und den Amüsiertrieb und ist gutes Futter für den Pleitegeier. Du hast den ganzen Tag Buchstaben aus dem Alphabet geschlagen, die Sonne ist untergegangen, und diese gewisse innere Stimme sagt, du willst noch unter Menschen sein, aber weiter als bis ins Erdgeschoss würdest du jetzt auf keinen Fall gehen, nein, heute nicht, du bleibst zu Hause! Oder, eine andere Standardsituation, es gibt im Kühlschrank nichts, was der ganzen Familie zum Abendessen passen könnte. Gehn wir nach unten? Au ja.

Das „Viktor“ ist weniger Kneipe, sondern, wie’s auf der Karte heißt, eine „Café-Bar“ (mit 70 Sitzplätzen und einer langen und einer kurzen Theke), und das ist auch der treffende Ausdruck, denn es ist ganz schön elegant (im Gegensatz zum ganz schön runtergekommenen vierstöckigen, bald 100 Jahre alten Haus, das Postbräu Thannhausen gehört), ohne jedoch irgendwie fein oder schnöselig zu sein oder zu tun. Dazu passend sind der Chef und die Bedienungen immer schnell und freundlich, ohne jemals servil oder sonstwie komisch zu sein. Leute, denen ihre Arbeit Spaß zu machen scheint und die was davon verstehen, die hat man ja gern im Haus. Die Speisekarte steht täglich neu an der Tafel, das Essen ist hauptsächlich italienisch, es ist gut und sieht immer sehr gut aus, und man kann sogar großen Hunger haben. In vergleichbaren Lokalen wird da anders hingelangt, hier sind es 8 bis 20 Mark. Die Liste an Drinks etc. ist, wie es sich für eine gute Bar gehört, gut, das Postbräu Helle gehört verbessert.

... weiter als bis ins Erd-geschoss gehst du nicht

Manchmal bin ich sogar dort, um einfach nur Musik zu hören. Da laufen nicht immer die gleichen Kassetten, nein, da stehen sogar zwei Plattenspieler, und nie kommen Rolling Stones o. ä. Eine kritische Stimme meint, es würde zu viel „Bumsmucke für BWL-Studenten“ laufen, d. h. TripHop und so (immer diese Plattenhändler!). Sicher, es ist nicht der Platz, wenn mal wieder der große gute Krach im Getümmel gebraucht wird, aber den möchte ich auch nicht im Haus haben. Und überhaupt, wer kommt da rein? Die ominöse bunte Mischung. Hohe Frauenquote, keine Prolls, und, besonders dankenswert, keine FDP-Typen und sonstige Deppen. Auch gut, dass es keins von diesen puren Stammgäste-Lokalen ist und deshalb auch nicht dieses ekelhafte Sich-wie-daheim-Fühlen ausstrahlt. Für meinen Geschmack könnten mehr Alte da sein, und an manchen Abenden sind’s zu viele Studenten, glaub ich. Es ist kein Fußballlokal, aber bei großen Ereignissen wird „das Studio“ eingerichtet: Auf die treppenstufenhohe Bühne am Ende des schmalen Raums, wo gewöhnlich ein großer Tisch steht, kommen dann Kunstrasen, Bänke und Tische. Von Anfang an war hier niemand für Deutschland.

In so einer Situation sind aber nicht die Privilegien, die man z. B. nach der Sperrstunde genießt, die größte Gefahr, sondern dass du irgendwann zum Inventar wirst. Du stehst in den Hauspantoffeln herum, und niemand weist dich darauf hin.

Ich lebe mit einem Lokal in der Wohnung. Vormittags höre ich das Scheppern von Bierkästen und abends immer diesen Klangteppich aus klirrenden Gläsern, Gelächter, Stimmen und Musik. Der dann immer wieder zerstört wird von dem gigantischen Metallkrach, wenn drüben am Güterbahnhof Waggons aufeinander prallen. Das klingt wie der Beginn des Jüngsten Tags. Kann ich anschreiben, bitte? FRANZ DOBLER