Fänger im Zirkus

Le cirque nouveau est arrivé, mit Musik, Kostümen, Lichteffekten und einer Trapezanlage, die sich im Lauf der Vorstellung zwölf Meter über den Boden erhebt: Die französische Compagnie „Les Arts Sauts“ mit ihrem neuen Programm im Anhalter Bahnhof

von YVES ROSSET

Trapezkunst hat in Frankreich Tradition. Erfunden wurde sie von Jules Léotard, einem Turner aus Toulouse, der 1859 zusammen mit seinem Vater zum ersten Mal die Zuschauer des Cirque Napoléon durch seine Luftakrobatik erschauern ließ. Seitdem gehört die mit lautem Trommelwirbel angekündigte Trapezkunstnummer zum Höhepunkt aller Zirkusprogramme.

Nur das Stroh, das einen eventuellen Sturz des Künstlers abfedern sollte, wurde von einem einige Meter über den Boden gespannten Netz ersetzt: „Die Grundlage unserer Kunst liegt im Fallen. Wenn du nicht genau weißt, wie du richtig im Netz landen musst, kannst du die Trapezkunst vergessen“, erklärt Patrice Wojeichowski beim Pressegespräch, das direkt nach der Vorstellung in der Bar de la Bulle des Zirkus „Les Arts Sauts“ stattfindet.

Wojeichowski ist ein voltigeur, ein Trapezkünstler also, der gerade noch während einiger atemberaubender Sekundenbruchteile durch die Luft geflogen war, bevor er sicher an den Handgelenken des Fängers landete.

1993 gründete Wojeichowski zusammen mit fünf Freunden das Trapezensemble Les Arts Sauts. Die jungen Akrobaten hatten damals nach ihrer Ausbildung schon genug Flugerfahrung unter den Kuppeln verschiedener Zirkusse gesammelt, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Und sie hatten Ideen zur Erneuerung des Genres. Mit dem Aufbau einer Trapezanlage unter freiem Himmel, die die Künstler überallhin transportieren und vor allem selbst installieren konnten, wurde der erste Schritt heraus aus dem traditionellen Zirkusbetrieb gemacht. Zu dem ursprünglichen Kern gesellten sich dann neue Akrobaten und auch Musiker – ein Cellist und eine Sopranistin.

1996 verbrachten die Luftkünstler dank der Vermittlung der „Alliance Française“ – des französischen Pendants zum Goethe-Institut – einen fünfmonatigen Arbeitsaufenhalt in Laos, wo sie die erste Trapezanlage im Land aufbauten: „Die Zusammenarbeit mit den Menschen dort war für uns alle fantastisch“, erinnert sich Wojeichowski. Ein Grund, das neue Spektakel, das Les Arts Sauts zwischen 1996 und 1998 konzipierten und nun am Anhalter Bahnhof präsentieren, auf einen laotischen Namen zu taufen: „Kayassine“, zu Deutsch „Zirkus“.

„Kayassine“ ist ein kollektives Produkt im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur weil jeder Einzelne der zwanzig Künstler für das speziell konstruierte Druckluftzelt sowie das Gerüst aus Stahlträgern und die Technik selbst Geld eingezahlt hat – eine Investition, die sich erst 2005 lohnen wird. Sondern auch weil der Ablauf des Spektakels von Anfang an mit Spezialisten aus verschiedenen Fächern zusammen erdacht wurde – ein Arbeitsprozess, der charakteristisch für eine Zirkusform ist, die seit zehn Jahren, von Frankreich ausgehend, als cirque nouveau bezeichnet wird.

Bei Les Arts Sauts untermalen die Musiker den dramaturgischen Ablauf, den der Straßentheaterregisseur Hervé Lelardoux in Szene gesetzt hat, und die Kostüme, die vom Cupido-Röckchen bis zum mittelalterlichen Handwerker-Outfit reichen, wurden speziell entworfen. So entsteht ein Gesamtkunstwerk, eine Zirkusmanege, die sich im Laufe der Vorstellung langsam in die Höhe erhebt und am Ende zwölf Meter über dem Boden in der Form eines Luftballetts schwebt. Und damit die Zuschauer keinen steifen Hals bekommen, sind sie auf Liegestühlen untergebracht.

„Kayassine“ ist wie ein Feuerwerk: ephemer, bunt, Schwindel erregend. Man weiß nie, was man als Nächstes zu sehen bekommt. Darum soll hier auch nicht viel verraten werden. Nur eines: Kicks für ein sensationssüchtiges Publikum wollen die Künstler von Les Arts Sauts nicht erzeugen. Halsbrecherische dreifache Saltos überlassen sie lieber russischen Athleten. Sie bevorzugen ihre kleinen Luftszenerien, die mit Witz, choreografischem Taktgefühl und poetischer Zerbrechlichkeit aufeinander folgen. „Wir sind keine Sportler“, sagt Christophe Lelarge, ein kräftiger Mann, als Fänger am Trapez sozusagen das Gegenstück zum voltigeur Patrice Wojeichowski. Er trinkt einen Schluck Bier und fügt hinzu: „Nach der Vorstellung feiern wir lieber alle zusammen die ganze Nacht in der Bar.“

Bis 15. 7. am Anhalter Bahnhof, tgl. 20.30 Uhr außer So./Mo. und 8. Juli