Heute ist Harry-Potter-Tag

Letzte Nacht haben nur wenige amerikanische und britische Buchhändler geschlafen: Seit Mitternacht verkaufen sie „Harry Potter and the Goblet of Fire“

von PETRA KOHSE

Sie sind drin! Jetzt sind sie drin! Hunderttausende Kinder und Erwachsene, die in den letzten Stunden vor britischen und amerikanischen Buchläden darauf gewartet haben, ein 734 Seiten starkes Buch kaufen zu dürfen, das sie zärtlich „Harry four“ nennen. Gemeint ist „Harry Potter and the Goblet of Fire“ („Harry Potter und der Feuerkelch“), der vierte Teil der Jugendbuchserie von Joanne K. Rowling, der in Großbritannien und den USA mit einer Startauflage von 5,3 Millionen heute Nacht auf den Markt gekommen ist. Während mit der 900-seitigen deutschen Übersetzung im Carlsen-Verlag erst im Oktober zu rechnen ist, haben sich Käufer der Originalfassung bereits jetzt wieder Eintritt in die Parallelwelt der Hexen und Zauberer des heutigen Englands verschafft und die Teilhabe am größten Book-Release-Event der Welt gratis dazu bekommen.

Gepanzertes Geheimnis

Es ist wirklich eine Art „Bücherbefreiung“. In Panzerwagen wurden sie kistenweise zu den Buchhandlungen geschafft, durften dort nicht ausgepackt oder wenn doch – der Online-Versand Amazon hat sich, um seinen fast 400.000 Vorbestellungen nachzukommen, schon gestern ans Werk gemacht – nicht angeguckt werden. Mitarbeiter der Verlage Bloomsbury (GB) und Scholastic (USA) mussten sich vertraglich verpflichten, den Inhalt geheim zu halten. Das hat Rowling so verfügt, um den Lesern nicht die Spannung zu verderben. Die Verlagschefs werden sie dereinst dafür selig sprechen.

Denn so kann nach dem sensationellen Erfolg der ersten drei Potter-Bände (30 Millionen verkaufte Exemplare in 32 Sprachen seit 1997) für Nummer vier mit dem Äußersten gerechnet werden. Der Budenzauber vorneweg war enorm. Auf Dutzenden von Fanseiten im Internet wurden Vermutungen über Handlungsdetails ausgetauscht, bei Signierstunden der Autorin kam popkonzertartige Stimmung auf, und über den sonst nicht gerade als Lesemeile bekannten Stränden Kaliforniens zogen Flugzeuge Spruchbänder hinter sich her, die an den Start von „Harry four“ erinnerten. Nicht einmal die Nachricht vom versehentlichen Verkauf eines Exemplares am Montag in Virginia, konnte das wohlige Gefühl gemeinschaftlichen Nichtwissens schmälern, kam die glückliche Besitzerin, die achtjährige Laura Cantwell, vor lauter Interviews doch gar nicht zum Lesen. Für die stilechte Feier des Tages X haben Buchhandlungen spitze Hüte, alte Kessel, Umhänge und Eulen herangeschafft, und um elf Uhr geht in London ab King’s Cross ein historischer Zug auf Werbetour, der die fiktive Abfahrt des Hogwarts Express von Gleis neundreiviertel zu Beginn jedes Zaubererschuljahres simuliert.

Schottisches Fräuleinwunder

Joanne Kathleen Rowling, eine aparte blonde Erscheinung, ist das neueste Fräuleinwunder des seriellen Buchgeschäfts: Eine 34 Jahre alte ehemalige Lehrerin, die als alleinerziehende Mutter mit ihrer sechsjährigen Tochter in Edinburgh lebt – patent, begabt und schreibwütig. Gestern (also 1994, als das erste Buch entstand) noch ein Sozialfall, heute die drittreichste Frau Großbritanniens. Und dabei beileibe keine schottische Cinderella, sondern bei allem Talent und glücklichem Zusammentreffen förderlicher Umstände ist der Erfolg auch kalkuliert.

Die Harry-Potter-Bücher haben ein klares Konzept. Das Gute setzt sich durch, und schon im ersten Band heißt es über den einjährigen Zaubererjungen, der die dunkle Macht besiegte, dabei seine Eltern verlor und nun bei den nicht mit Magie begabten Verwandten aufwachsen muss: „Er wird berühmt werden – eine Legende –, es würde mich nicht wundern, wenn der heutige Tag in Zukunft Harry-Potter-Tag heißt – jedes Kind auf der Welt wird seinen Namen kennen.“ So ist es. Wobei die Harry-Potter-Bände zwar für Leser zwischen 8 und 12 Jahren eingestuft sind, sich aber schon auf Grund des Umfangs (330 Seiten aufwärts) ebenso an Erwachsene richten.

Tatsächlich halten die Verlage entsprechende Schutzumschläge bereit. Auch die Geschichte selbst lässt sich von mehreren Alterstufen aus betrachten. Wie der Waisenjunge Harry von seinen fiesen Verwandten unterdrückt wird, dann aber als Zauberer in der magischen Welt seinen Weg macht, wird Kindern gut gefallen, während Jugendliche neben dem variationsreichen Zaubereralltag auch eine komplette Internatsgeschichte sowie spannende bis unheimliche Abenteuer geboten bekommen. Erwachsene indessen können sich darüber hinaus an den Details erfreuen. An der genüsslichen Beiläufigkeit, mit der Rowling beschreibt, wie Harrys debiler, schweinsgesichtiger Cousin von seinen Eltern vergöttert wird, an der Art, wie die ausgefallensten Charaktere sich über mehrere Bücher hinweg aufbauen, wie es ganz selbstverständlich vor Zaubererklischees wimmelt (Kessel! Besen!!) oder einfach am Wortwitz.

Zauberministers gute Welt

Es ist natürlich eine konservative Geschichte, die Rowling erzählt und als Parallelwelt dem modernen England entgegensetzt. Eine überschaubare Welt, in der sich von der Butterbierwirtin bis zum Zaubereiminister alle seit jeher kennen. Eine moralisch eindeutige Welt, in der Treue und Tapferkeit letztlich das Böse besiegen. Und eine pädagogisch wertvolle Welt, in der auf dem Weg zum Showdown immer wieder Unbekanntes um die Ecke biegt und in den ausgefallensten Erscheinungsformen erschreckt (Werwolf, peitschende Weide etc.), von den Heranwachsenden durch den richtigen Umgang damit aber meist schnell als Dazugehöriges dechiffriert werden kann. In der Wirklichkeit hingegen verhält es sich in der Regel gerade umgekehrt und man nimmt tagtäglich die unglaublichsten Dinge hin, ohne es überhaupt zu merken. „Harry Potter“ zu lesen ist ein genüsslicher Rollback – ein Winken aus der Zeit, als es noch so viele Pläne gab, dass man sie mit unsichtbarer Tinte geheimhalten musste. Unter spielerisch umgedrehten Vorzeichen eine Art richtiges Leben im falschen.

Harry und Freunde im Internet: www.carlsen.de, bloomsbury.com, harrypotterfans.net