Ehrenamtlicher Feudalismus

Die Schweiz möchte das Freilichttheater vom Geruch nach Heimat und Verbrechen befreien. Doch die Verwandlung der Regionen in Gemeinschaftskunstwerke verlangt nach unbezahlten Frondiensten

von TOBI MÜLLER

Die Redaktion stöhnt verständnisvoll milde, der fleißige Jungkritiker bemüht die Theatergeschichte, und die Randregionen, die es in der Schweiz auch im Zentrum gibt, wähnen sich im Mittelpunkt der klassischen Feuilletons: Es ist Sommer. Freilichttheater überziehen das Freiland. Meist in Mundart, meist mit Laien, meist mit großen Stoffen auch – oder was wir Schweizer dafür halten. Dramatisierte Ikonen wie Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller sind beliebt, auch Schillers „Tell“ taucht vielerorts festspielmäßig auf, und Calderóns „Welttheater“ gehört mittlerweile zum Klosterplatz in Einsiedeln wie die schwarzen Madonnen aus Plastik. Theater als Souvenir. Als Erinnerung? Woran?

Blöd und verbrämt ist, wer die boomenden Freilichttheater nur als nach Heimat und Verbrechen riechende Theaterstadl abtun will. Dafür sind die Modernisierungsbemühungen zu zahlreich. Vor ein paar Jahren inszenierte man in Schaffhausen Alfonso Sastres dunkel kritische Umschrift des „Tell“, Thomas Hürlimann lieferte für Einsiedeln unlängst eine ebenso aktualisierte wie heillose Version des „Welttheaters“ (Regie: Volker Hesse), und der Basler Autor Hansjörg Schneider, der immer wieder mit dem Luzerner Landschaftstheatermacher Louis Naef arbeitet, schrieb nach Motiven von Keller ein episches Stück zum blutigen Franzoseneinfall von 1798 in Nidwalden.

Was man wissen muss: Im erzkatholischen Einsiedeln wachen die Klosterbrüder genau darüber, was auf ihrem Grund und Boden gespielt werden soll, und in Nidwalden empfinden viele die Helvetik – die französische Besetzung, die in die Restauration mündete und schließlich die Grundlagen für den modernen Bundesstaat von 1848 gelegt hatte – heute noch als eine Schande. „Die in Bern oben“ fielen schnell damals, man wurde verpfiffen und missachtet. Ein Gefühl nicht der geografischen, sondern ökonomisch-politischen Peripherie, das anhält.

Der Anspruch auf Modernisierung wird nun bisweilen etwas übereifrig gefeiert. Beim diesjährigen Mega-Event, dem „Einsiedler Welttheater“ mit 2.500 Plätzen, fielen die Reportagen im Voraus wie Herbstblätter, wie feuilles vom Himmel. Wie Feuilletons eben, die performativ eine aktuelle Zeitgenossenschaft herstellen, die im Sommer zum Zeitpunkt der Premiere dann niemanden mehr stört. Im Übrigen ist sie den fertigen Produkten auch kaum anzusehen. Wie denn. Wer vor großen Massen im Freien spielt, sie gar noch wandern lässt und ganze Hügel miteinbezieht (wie Schneider/Naef dies sehr schön tun), kann keine feinsinnig theologisch modernisierten oder theoretisch sinnfällige Botschaften übermitteln. Was zählt, ist der Effekt und eine Art metaphysisches Erlebnis. Historisch treffen sich in diesem Punkt sozialistisches Agitprop-Theater und die NS-Thingspiel-Bewegung (wobei Letztere nur kurz aufflackerte), barocke Mysterienspiele, Fastnachtsaufführungen und auch bis zu einem gewissen Punkt die Festspiele, die in der Schweiz lange anlässlich von Jubliäen geschrieben und aufgeführt worden sind.

Über die ästhetische Qualität der einzelnen Produktionen ist damit wenig gesagt. Eines aber ist klar: Die Kultureier, die hier alljährlich ins provinzielle Gras gelegt werden, muten immer größer, schwerer und teurer an. Ohne Großbank im Rücken geht nichts mehr, um die oft hoch dotierten künstlerischen Leitungsteams und die eingestreuten Profischauspieler zu bezahlen. Die krasse Mehrheit jedoch arbeitet umsonst. Bis zu fünfhundert Laien in verschiedensten Funktionen geben bis zu einem ganzen Jahr ihrer Freizeit hin und absolvieren unzählige, oft überlange Vorstellungen, um eine Tradition fortzusetzen, an deren Ursprung sich viele gar nicht erinnern können. Die Ideologie, mit welcher der Theater- und Kulturapparat die unbezahlten Arbeitssubjekte anruft, lautet in etwa immer gleich: Eine Region findet zur Gemeinschaft, Vereinsstrukturen werden zusammengeführt, man zieht am selben Strick. Am eigenen wahrscheinlich. Und das Reden darüber übernehmen dann eben die Feuilletons und Magazine. Die Kritik wirft in der Regel den Schongang an, vermeintlicherweise um die Laien nicht abzureiben. Als gäbe es keinen künstlerischen Zugriff jenseits individueller Leistungen.

Fehlt das Geld, spricht man gerne von sozialer Praxis. Wir kennen das. Selbstausbeutung muss der handelsüblichen taz-Leserschaft nicht erklärt werden. Innerhalb einer massiv kommerziellen Theatermaschine sehen ursprünglich gegenkulturelle Konzepte allerdings besonders schräg aus. Liebe Arbeitshennen, hier habt ihr eure soziale Praxis das ganze Jahr hindurch; ab der Premiere zählt dann aber nur noch unser Gockel-Ei, das wir schon in Umlauf zu bringen verstehen werden. Im Grunde geht das hinter Marx zurück, der die Entstehung von Mehrwert eben gerade nicht mit einer unangemessenen Entlohnung erklärte. Feudalismus statt Frühkapitalismus also, in Schwung gebracht mit dem postmodernen Dreh, dass sich eine Region, pardon: ein Netzwerk in prozessualer Fronarbeit selbst als Kunstwerk konstituieren darf.