Der Staat als Spielball der Betrüger

Haiti findet keinen Weg aus der Verfassungskrise. Nach gezinkten Wahlen ohne offizielles Ergebnis kündigt nun der Premierminister seinen Rücktritt an. Die internationalen Hilfsgelder werden nach dem Betrug wohl eingefroren bleiben

von TONI KEPPELER

Die Lage wird immer verworrener. Erst verbrachte Haiti eineinhalb Jahre ohne Parlament und zum Teil auch ohne Regierung. Dann fanden endlich die mehrfach verschobenen Wahlen statt. Ihr Ergbnis wurde so zurechtgebogen, dass Präsident René Préval über eine bequeme Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments verfügt. Und trotzdem kündigte sein Premierminister Jacques-Edouard Alexis am Wochenende seinen Rücktritt an. Er wolle Préval nicht im Weg stehen.

So schnell kommt Haiti nicht aus seiner Verfassungskrise. Der Karibik-Staat ist ein Beispiel dafür, dass Verfassungsorgane, wenn sie einmal genügend heruntergewirtschaftet sind, überflüssig werden können.

Die jetzige Krise begann im Januar vergangenen Jahres. Die Amtszeit des Parlaments war ausgelaufen. Präsident Préval von der Lavalas-Bewegung des haitianischen Volkshelden Jean-Bertrand Aristide schickte Abgeordnete und Senat nach Hause, ohne dass Neuwahlen ausgeschrieben worden waren. Der Grund: Lavalas war auseinandergebrochen. Die Mittelschicht, die zunächst Lavalas unterstützt hatte, wollte mehr mitreden, als es der selbstherrlich-populistische Vormann Aristide erlaubte. Sie spaltete sich ab, und plötzlich war Präsident Préval ohne Mehrheit im Parlament.

Eigentlich wollte er die Neuwahl bis in den November dieses Jahres hinausschieben. Dann nämlich wird auch ein neuer Präsident gewählt. Lavalas-Kandidat wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Aristide sein. Der einstige Befreiungstheologe und Hoffnungsträger der Armen ist bei den Haitianern noch immer so beliebt, dass er keinen Gegner fürchten muss. In seinem Windschatten sollte Lavalas wieder bequeme Mehrheiten bekommen. Ohne das Zugpferd aber erschien die Sache nicht so sicher.

Nach drei abgesagten Terminen wurde schließlich Ende Mai gewählt. 60 Prozent der Wähler gingen zu den Urnen. Für Haiti eine unerwartet hohe Beteiligung. Und eben so unerwartet war das Ergebnis: Lavalas war auch ohne Aristide mit Abstand stärkste Partei. Denn die Opposition ist hoffnungslos zersplittert. Das genaue Wahlergebnis wird man jedoch nie erfahren: Der Vorsitzende der Wahlbehörde, Leon Manus, der es hätte verkünden müssen, weigerte sich und floh Mitte Juni nach Todesdrohungen in die USA.

Der Grund: Manus wollte beim Betrug nicht mitmachen. Will ein Kandidat im ersten Anlauf in den Senat oder die Abgeordnetenkammer, braucht er in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen. Gezählt worden waren aber nur die Stimmen der vier jeweils stärksten Parteien, und so reichte es für Lavalas auf Anhieb für 18 von 19 Senatoren und 26 von 83 Abgeordneten.

Das Ergebnis der Stichwahl vom 9. Juli ist offiziell noch immer nicht bekannt gegeben worden. Trotzdem geht mittlerweile jeder in der politischen Klasse davon aus, dass Lavalas in beiden Kammern die absolute Mehrheit hat. Der Mehrheit der Haitianer war der zweite Wahlgang ohnehin egal. Verschiedene Quellen schätzen die Wahlbeteiligung auf zwischen einem und zehn Prozent. Wahlbeobachtung fand nicht statt. Die Organisation Amerikanischer Staaten hatte ihre Beobachter schon vorher unter Protest abgezogen.

Aristide hat mit diesem „Ergebnis“ freie Hand, wenn er Ende des Jahres erwartungsgemäß die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte. Für die rund acht Millionen Haitianer aber brachte das ganze Spektakel gar nichts. Rund 600 Millionen Dollar dringend benötigter Hilfsgelder, die seit der Auflösung des Parlaments eingefroren wurden, werden nach diesen Betrugsmanövern ganz bestimmt nicht losgeeist. Die rund 90 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben, werden sich trotzdem weiterhin irgendwie durchschlagen. Und die schmale Oberschicht der Reichen wird weiterhin feine Villen bauen, wie es Aristide für sich schon getan hat.

Blamiert sind am ehesten die USA. Die hatten 1994 mit einer Militärintervention den zuvor von Militärs gestürzten und als links geltenden damaligen Präsidenten Aristide wieder ins Amt gedrückt und ein gutes Jahr später zum Rücktritt gedrängt. Seither regiert sein Freund Préval. Zwei Milliarden Dollar haben die USA in die „Demokratisierung“ des Karibik-Staats gesteckt – ohne jeglichen Erfolg. Im Gegenteil: Haiti stieg zu einem der wichtigsten Drogenumschlagsplätze auf. 14 Prozent des Kokains, das in die USA gelangt, wird inzwischen über den Inselstaat verschifft. Auch enge Mitarbeiter von Aristide verdienen angeblich gut damit.