Kaschmir fordert Autonomie

Eine provokative Parlamentsresolution zwingt die indische Regierung zum Dialog. Dies ist wahrscheinlich die letzte Chance für Delhi, den Bundesstaat bei der Stange zu halten. Denn die Mehrheit der Bevölkerung wünscht die Unabhängigkeit

aus Delhi BERNARD IMHASLY

„Wenn Indien meint, der Sieg im Kargil-Krieg habe das Kaschmir-Problem beseitigt, dann täuscht es sich.“ Ein Jahr nach der Rückeroberung der von pakistanischen Grenzsoldaten besetzten Kargil-Höhenzüge zeigt die Volksstimmung in Kaschmir, wie Recht der kaschmirische Abgeordnete Tarigami mit seiner Einschätzung hat. Zwar kontrollieren Armee und Grenzpolizei die Lage, aber sie bezahlen dafür einen hohen Preis. Vorbeugehaft, Folter und der willkürliche Gebrauch von Schusswaffen zeigen, dass Indien weit davon entfernt ist, auch „Herz und Verstand“ der Kaschmirer zu gewinnnen.

Nach fünfzig Jahren des Konflikts gibt es in offiziellen Kreisen der indischen Hauptstadt Delhi Stimmen, die in einer permanenten Besatzungsarmee die einzige „Lösung“ sehen. Doch der Nuklearstatus der beiden Kontrahenten Indien und Pakistan, deren Streit wesentlich um Kaschmir kreist, hat die internationale Gemeinschaft auf den Plan gerufen. Diese fürchtet, dass eine derartige „Lösung“ die Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs in sich birgt.

Internationaler Druck hat die Regierung nun dazu bewogen, einem Dialog mit der Hurriyat-Konferenz, dem Dachverband der sezessionistischen und islamischen Parteien, zuzustimmen. Dies provozierte die Provinzregierung von Jammu und Kaschmir unter Farooq Abdullah zur Flucht nach vorn. Aus Angst, von der Hurriyat marginalisiert zu werden, holte Abdullah einen Bericht zur Autonomie des Bundesstaates hervor und ließ ihn in einer Parlamentsresolution am 26. Juni verabschieden.

Dies löste in Delhi Empörung aus. Sprecher der Hindu-Partei BJP nannten Abdullah, dessen National-Conference-Partei der Koalitionsregierung von Bihari Vajpayee angehört, einen Landesverräter. Der Grund für die scharfe Reaktion war der Kernpunkt der Resolution, eine Autonomie für Kaschmir müsse die Übereinkunft zwischen Nehru und Sheikh Abdullah im Juli 1952 als Grundlage nehmen. Diese sah vor, dass Kaschmir nur Verteidigung, Außenpolitik und Verkehr an Delhi abzutreten hätte. Sonst wäre es selbstständig – mit eigener Verfassung, eigener Flagge, einem Staatspräsidenten und Premierminister. Dies war damals der Preis, den Nehru zu zahlen bereit war, um Sheikh Abdullah, den Vater des heutigen Chefministers, von der Forderung nach Selbstbestimmung abzuhalten. Doch das Abkommen trat nie in Kraft, weil das Parlament im kaschmirischen Srinagar es nicht verabschiedete und Nehru sich mit dem „Löwen von Kaschmir“ überwarf. Die Regierung in Delhi füllte das politische Vakuum mit einer Flut von Sonderregelungen, welche die Autonomie immer weiter aushöhlten. Statt mehr Autonomie hatte Kaschmir schließlich weniger als die anderen Bundesstaaten. Es war der Beginn der Entfremdung des Staates, die schließlich vor zehn Jahren und mit Hilfe Pakistans in den bewaffneten Kampf mündete.

Mit seiner Resolution wollte Abdullah Delhi zwingen, auf ihn statt auf die Sezessionisten zu hören. Die radikale Forderung nach einer Quasiunabhängigkeit war als Provokation gemeint – doch sie ging weiter, als es Abdullah lieb war. Es regnete Proteste, und innerhalb einer Woche wurde die Resolution von der Regierung in Delhi zurückgewiesen. Abdullah sah sich dem Druck seiner Partei ausgesetzt, die Koalition aufzukünden.

Der Tod von Abdullahs Mutter rettete die Lage. Premierminister Vajpayee begab sich zum Begräbnis nach Srinagar, und die dortige emotionale Atmosphäre führte zu einer Wiederannäherung. Vajpayee lud Abdullah nach Delhi ein, und dieser meinte beschwichtigend, er habe nur eine nationale Debatte anstoßen wollen. Plötzlich war er für die BJP wieder ein Patriot, und der Sprecher der Partei erklärte, lediglich die Resolution, nicht aber die Berechtigung von Autonomiegesprächen sei vom Kabinett zurückgewiesen worden.

Beobachter sehen darin die letzte Gelegenheit, die Erosion des letzten Rests an Legitimität des indischen Staates in Kaschmir aufzuhalten. Selbst Regierungsbeamte erkennen an, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung heute die Unabhängigkeit dem Verbleib im indischen Staat vorziehen würde. Nur das Wissen, dass Indien Kaschmir nie aufgeben wird, bildet die schmale Brücke zu einem erzwungenen Dialog. Dazu kommt die Einsicht, dass Kaschmir ohne die massiven Finanztransfers aus Delhi längst Bankrott wäre. Die Zahl der arbeitslosen jungen Kaschmirer mit Schulbildung wird auf 150.000 geschätzt. Sie bilden ein unerschöpfliches Reservoir für die militanten Gruppen, und man nimmt an, dass rund zwanzig Prozent sich von diesen anwerben lassen.