„Einfach das Hemd gewechselt“

Wolfgang Petritsch, EU-Beauftragter für den zivilen Aufbau Bosniens, über seine Arbeit und die nicht erfolgte Aufarbeitung jugoslawischer Geschichte

Interview CHRISTIAN SEMLER

taz: Herr Dr. Petritsch, stehen Sie als eine Art Lord Protector von Bosnien-Herzegowina nicht vor dem Problem, dass ihr Ziel, der Aufbau einer zivilen Gesellschaft, gerade wegen Ihres Erfolgs als „Hoher Repräsentant“ zu scheitern droht? Alles wird von Ihnen erwartet, und niemand ist letztlich zufrieden.

Wolfgang Petritsch: Mir ist dieses Dilemma wohl bewusst. Man verlässt sich auf den Hohen Repräsentanten. Er soll auf allen Ebenen entscheiden. So können die Politiker in beiden Entitäten, in der Republika Srpska und in der Föderation, gleichzeitig an der Macht sein und in der Opposition. Wir haben uns deshalb entschlossen, uns auf strategische Entscheidungen zu konzentrieren: Entwicklung der Ökonomie, Rückführung der Flüchtlinge, Staatsaufbau. Gleichzeitig wollen wir versuchen, die Bevölkerung stärker als bislang zu konkreten Aufbauschritten heranzuziehen. Wir müssen alles vermeiden, was nach einem Oktroi schmeckt.

Was kann eigentlich in einem Land wie Bosnien-Herzegowina „Aufbau der Zivilgesellschaft“ heißen?

Ich weiß, dass Vereinigungen selbstbewusster, fürs Gemeinwohl engagierter Bürger in Bosnien nur in Form rudimentärer Kerne vorhanden sind. Der Krieg hat nicht nur das Land zerstört, sondern auch in den Köpfen Verheerungen angerichtet. Und es geht nicht nur um die Beseitigung der Kriegsschäden. Auch in Bosnien-Herzegowina vollzieht sich das Drama der Transformation vom Kommunismus zu Demokratie und Markt. Die alte Mentalität muss sich schrittweise auflösen, neue Formen des Bewusstseins müssen entstehen. Die Bürger müssen sich die gesellschaftlichen und politischen Probleme als eigene aneignen. Diese Form von Aneignung ist Voraussetzung für Zivilität. Wir betreiben in Bosnien-Herzegowina kein „social engineering“. Ohne Zivilgesellschaft kein Staat Bosnien-Hercegowina.

Wie steht es in Bosnien-Herzegowina mit einer zweiten fatalen Erbschaft, der des titoistischen Jugoslawiens?

Das Problem besteht darin, dass Jugoslawien eben kein typisch kommunistisches Land war. Deshalb gab es in den frühen 90er-Jahren auch keinen entschiedenen Bruch mit den Institutionen des bisherigen Regimes und auch nicht mit dem Geist, den es hervorgebracht hatte. Dieser Geist stellte die Zugehörigkeit zum Kollektiv absolut ins Zentrum. Erst das „Klassen“-Kollektiv, dann das Nationale. Ein Großteil der liberalen Intelligenzija verbündete sich mit den neuen, nationalistischen Machteliten. Eine perverse Wiederholung des Bündnisses von nationalen und liberalen Kräften, das einmal die Revolution von 1848 getragen hat. Auf diese Weise gab es keine geistige Erschütterung, keinen Neubeginn. Man wechselte einfach das Hemd.

Wie national sind die herrschenden Nationalisten heute?

Sie sind es überhaupt nicht im patriotischen Sinn. Sie sagen nicht, ich liebe mein Land und meine Leute, ich will alles tun, damit es ihnen gut geht und sie stolz auf ihr Land sein können. Der in Serbien, der Republika Srpska, aber bislang auch in Kroatien vorherrschende Nationalismus der Machteliten wird zynisch eingesetzt, um die Menschen in ihren verschiedenen Mythologien, vor allem in der, Opfer zu sein, gefangen zu halten. Slobodan Milošević ist kein Nationalist im patriotischen Sinn, sondern ein Machtpolitiker, der Emotionen manipuliert. Und der dadurch seine Machtpositionen aufrechterhalten will.

Ist es überhaupt möglich, mit den ehemaligen Kriegsherren und Gewinnlern einen demokratischen Staat aufzubauen?

Ich setze auf die Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse – und auf eine neue Generation. In Sarajewo und Banja Luka habe ich kürzlich zwei Business Schools eröffnet, wir trainieren auch künftige Beamte des Staates Bosnien-Herzegowina. Das Interesse ist groß. Interessanterweise machen demgegenüber ältere Hochschullehrer kaum Gebrauch von Stipendien für Auslandsaufenthalte und Erfahrungsaustauch. Bei den jüngst abgehaltenen Gemeindewahlen haben die bisherigen Machteliten, die die Bevölkerung ins ethnisch-nationalistische Identitätsgefängnis eingesperrt haben, an Stimmen verloren. Diejenigen aber, die sich um die konkreten Probleme der Leute kümmern und sagen: Ich bin zuerst Citoyen des Staates Bosnien-Herzegowina, dann Serbe, Kroate oder Muslim, haben Fortschritte erzielt.

Sie sprachen anlässlich der „strategischen Aufgaben“ für Bosnien-Herzegowina vom Aufbau der Wirtschaft und von der Notwendigkeit, flächendeckend zu privatisieren und ein vertrauenswürdiges Bankensystem zu etablieren. Wie vertragen sich diese Wünsche mit der Klientel- und Bandenökonomie, die das Land beherrscht?

Ich bin kein naiver Privatisierer. Wir haben als einen der ersten Schritte verfügt, dass ein politisches Amt und eine leitende Funktion in staatseigenen Unternehmen unvereinbar sind.

Es gibt Brüder und Vettern . . .

Gewiss, aber mit dieser Entscheidung ist ein Anfang gemacht und die Richtung vorgegeben. Wir sind entschlossen, die Professionalisierung des Managements im Betrieb wie im Staatsapparat voranzutreiben. Dazu gehört es auch, Steuereinnahmen und Kompetenzen von der Ebene der beiden „Entitäten“, also der Republika Srpska und der Föderation, auf die untere, kommunale Ebene herunterzuholen.

Auch in den Gemeinden herrscht der Klientelismus.

Wichtig erscheint mir, dass der Druck der Machteliten nachlässt. Die radikalen Nationalisten hatten angekündigt, die Gemeindewahlen mit Gewalt zu verhindern. Es geschah so gut wie nichts. Wenn die Kommunen mehr Entscheidungsfreiheit haben, werden sie rationaler auf unsere Vorgaben reagieren. Sie werden auch die finanziellen Vorteile nutzen, die mit der Möglichkeit der Rückkehr von Flüchtlingen verbunden ist. Das ist die schwerste der drei strategischen Aufgaben.

Wie wollen Sie in einem Land, in dem die Rüstungs- und Schwerindustrie massiert war, eine effektive Industrialisierungspolitik in die Wege leiten?

Angesichts von 50 Prozent Arbeitslosigkeit können wir die konventionellen Industriebetriebe nicht einfach dichtmachen. Ich setze auf intelligente Konversion und die Ausbildung von Spezialisten. Wenn es gelänge, ausländische Investoren zu gewinnen, könnte Bosnien einen Sprung in der industriellen Entwicklung machen.

Treibt die Verhaftung führender mutmaßlicher serbisch-bosnischer Kriegsverbrecher durch die SFOR und deren Überstellung ans Haager Tribunal nicht die Menschen erneut in die Arme der Machthaber?

Ich halte die Vollstreckung der Haftbefehle im Gegenteil für eine herausragende positive Maßnahme. Die Opfer finden den Glauben daran wieder, dass schließlich doch die Gerechtigkeit siegt. Und die Zuschauer wissen, dass es keine unterschiedliche Behandlung von Großen und Kleinen gibt, dass Klarheit herrscht, Rechtssicherheit.