Kaviar und Katastrophe

Der Absturz der Concorde ist zu einem Abschiedsmythos geworden. Die Katastrophe symbolisiert das Ende einer Marktwirtschaft, die noch vom Luxus träumen konnte

Es gibt Katastrophen, die sehen aus wie von einem geschmacklosen Gott in einem Augenblick niederträchtigsten Humors erdacht. Andere kommen so melodramatisch daher, dass sie ihre moralische Pointe gleich mit liefern: „Die Natur schlägt zurück!“ Wieder andere Katastrophen geben sich vernünftig: Das einzig Gute an diesem Unglück ist es, dass wir zu verhindern lernen, dass es sich wiederholt. Und dann gibt es Katastrophen, auf die hat der Zeitgeist offensichtlich nur gewartet, um sich von einer mythischen Altlast zu befreien. Womit wir es derzeit zu tun haben, ist offensichtlich ein kollektiver Abschied von dem, was man so die Moderne nennt. Es ist schon bemerkenswert, wie einig sich unsere Medien, gedruckt oder gesendet, sind: Der Absturz der Concorde in Gonesse bedeutet einen „Abschied von einem Mythos“.

Die Concorde war ein rücksichtslos geiles Flugzeug. Laut, teuer, obszön. Sie kam auf den Markt, als der Kapitalismus zum letzten Mal versuchte, so etwas wie Luxus zu produzieren, auch wenn dieser Luxus schon so billig aussah wie die Bühnenkleider von Abba. Die Concorde war das flugtechnische Äquivalent zu „Emmanuelle“-Filmen, Plateauschuhen und Disco. Jahre bevor der Neoliberalismus auf eine neue Volkstümlichkeit setzte und der Kampf gegen die Entwertung der Luxuszeichen höchstens noch vom gehobenen Mittelstand geführt wurde, Jahre bevor ökologische Moral und entsprechende Ästhetik kein bisschen dissident mehr waren, machte die Concorde Technologie zu einem Gesamtkunstwerk, wie es sich sonst nur die Rüstungsästhetik leistet. Es war dieser Champagner- und Emmanuelle-Kitsch, hinter dem die Concorde verbarg, dass sie eigentlich nur das zivile Abfallprodukt eines Langstreckenbombers war.

Schneller, als der Versuch der Rationalisierung der Katastrophe unternommen wurde, waren sich die Medien über ihren Meta-Text einig: „Das Ende eines Mythos“. Klar, dass es sich wieder einmal genau andersherum verhält: Wir konstruieren anhand dieser Katastrophe einen Mythos vom Ende. Vom Ende jener technologischen Geilheit, die über alle Grenzen hinaus will, vom Ende der „Exklusivität“ (nicht nur Passagiere, sondern auch die Crews der Concorde, so erfahren wir nun nebenbei, betrachteten sich als Mitglieder einer Elite). Aber auch vom Ende einer Marktwirtschaft, die sich wenigstens noch zu träumen traute. Wenn sie genügend oft die wenigen Bilder vom Wesentlichen der Katastrophe repetiert hatten, dann fantasierten sich unsere Medien ins soziale Drumherum: Eine Fahrt mit dem – das wird betont „Luxusdampfer“ – und zuvor ein Besuch auf dem Empire State Building waren für die Passagiere vorgesehen. Und ein Musical-Abend. Ich vermute: eine perfekte Kleinbürgervorstellung von „Glück“. Aber auf der anderen Seite auch die Bilder von den Bewohnern von Roissy, ihr Zorn, ihre Verzweiflung. Die Katastrophe ist für sie auch Ausdruck ihrer sozialen Ohnmacht. Das Traumschiffglück und das Ohnmacht-Erleben, die beiden Seiten einer Bürgerexistenz im Neoliberalismus, stürzen buchstäblich ineinander.

Der Concorde-Absturz hatte von allen Katastrophenszenarien etwas: Der zynische Humor, mit dem Menschen in den Tod geschickt werden, die sich ein zwar ein bisschen luxuriöses, aber doch überschaubar biederes Vergnügen gönnen wollten, vielleicht glanzvoller Höhepunkt eines stetig geführten Bürgerlebens. Der melodramatische Aspekt einer Rache an technologischer Hybris und sozialer Mobilität, die immer auch Verlierer produziert. Die Rationalisierung im Projekt eines möglichen Ausstiegs aus einem unvernünftigen Kapitel der modernen Verkehrsgeschichte. Vielleicht finden wir ja auch doch noch „Schuldige“: die uneinsichtigen Profitgeier im Hintergrund, denen wir noch jeden weißen Hai und jeden einstürzenden Neubau verdanken. Und das kollektive Trauerritual als Abschied von den Modernisierungs- und Luxusträumen der Siebzigerjahre. „Das Ende eines französischen Traums“ beschreibt, vom Allgemeinen ins Besondere sich wendend, als zweite Schlagzeile des denkbar konformen Medientextes die Katastrophe. Erinnern wir uns: Kaum war die Concorde auf dem Markt, da spielte das Kino in einem der damals populären „Airport“-Filme die Katastrophe schon einmal durch. Sie konnte nur abgewendet werden von einem, der beinahe genauso gut aussah wie das spitznasige Flugzeug selber, und der sich genauso als nationales Symbol begreifen ließ: Alain Delon. Der ganze Film handelte davon, wie dieser französische Traum der Abwehr der hässlichen Wirklichkeit diente, von allem, was nicht schön und reich war. Die Concorde war trotz ihrer technischen Protzereien weniger eine Zukunftsmaschine als eine Entwirklichungsmaschine. Die Antwort des Bürgertums auf die utopische Politik der Straße und auf das selbst produzierte Elend. Was nach der Concorde kam, waren die braveren, runderen, weniger obszönen Flugzeuge, die schon in ihrem Äußeren behaupteten, dass Fliegen kein Luxus mehr sei. Die Concorde war nicht bloß technisch und ökologisch ein Anachronismus. Sie war das fliegende Bild des Klassenkampfs in der Zeit vor der Elektronisierung der Massen.

Die Aufgabe unserer Medien ist es, die Katastrophe einzuschreiben ins Weltbild des Mainstream. Der „Sinn“ dieser Katastrophe ist der Abscheu vor der frivolen Vergangenheit unseres aktuellen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. So wird es bedeutsam, dass wir erfahren, wie viel Champagner und Kaviar die RTL-Moderatorin Birgit Schrowange in einer Concorde zu sich genommen hat. Ungefähr so sieht „Betroffenheit“ in jener Spaßgesellschaft aus, die die Traumgesellschaft des Concorde-Luxus abgelöst hat. Und die Katastrophe der „alten“ Technologie wird in die Feier der neuen eingeschrieben. Das Bundeskabinett hält seine eigene Trauerfeier auf der Expo ab, dem Fest der neuen Technologie und der neuen Mitte. So scheint die Katastrophe erlösend nicht nur in Frau Schrowanges Champagner- und Kaviarkonsum, sondern auch in die Selbstfeier des neuen Moralismus. Niemand hat im Namen der Opfer protestiert, alle haben etwas von dem erkannt, was die Katastrophe zu bedeuten hat.

In Wirklichkeit aber hat eine Katastrophe keinen Sinn. Sie ist ein bewusstloser, dummer Prozess. In diesem Sinne tat Voltaire gut daran, im Namen der Vernunft gegen das Erdbeben zu protestieren. Aber wo Menschen nicht nur als Opfer beteiligt sind, da ist eine Katastrophe nicht nur ein dummer, sondern auch ein produzierter Prozess. Der Meta-Text beinahe aller Katastrophen unserer Zeit ist die Profitgier. Wenn „Fortschritt“ nur noch das ist, was Profit bringt, dann müssen die Concordes vom Himmel fallen als Relikte eines Kapitalismus der Klassenidentifikationen und des Überflüssigen. Was uns die Katastrophe am Ende bedeutet: Der Kapitalismus ist zur Natur geworden. Die duldet, wie wir wissen, keine Dekadenz. Der reichlich drastisch geratene „Abschied vom Mythos“ trennt die neue von der alten Ökonomie.

GEORG SEESSLEN

Hinweise:Die Concorde war ein rücksichtslos geiles Flugzeug. Laut, teuer, obszön. Das Äquivalent zu Plateauschuhen und Disco.Was uns die Katastrophe am Ende bedeutet: Der Kapitalismus ist zur Natur geworden. Die duldet keine Dekadenz.