Fluch und Segen des Datschenlebens

Mögen auch finanzstarke Russen das Mittelmeer erobern, die Mehrzahl der Russen kann sich Reisen ohnehin nicht leisten

Lifestyleprodukt Urlaub. In unserer Sommerseriestellen taz-Korrespondenten grenzübergreifendUrlaubsstile vor. Denn zwischen Wanne-Eickel undBuenos Aires ändern sich nicht nur Destinationen,sondern auch Gewohnheiten. Heute: die Russen

von BARBARA KERNECK

Über die Hälfte aller Einwohner der Russischen Föderation verreisen im Urlaub nicht. Sie streben dorthin, wo sie auch die Wochenenden verbringen: auf die Datscha.

Dorthin transportieren sie ihre alten, brüchigen Möbel, dort tragen sie ihre ausrangierten Klamotten ab. Aus Angst vor den Landstreichern, die winters in den leer stehenden Hütten ihr Unwesen treiben, bringt niemand etwas Neues oder Schönes auf die Datscha mit.

Mit dem Wort „Datscha“ ist heute selten eines jener ausufernden Holzhäuser gemeint, wie sie ein Tschechow oder ein Gorki bewohnten – eher eine Art Schrebergartenbude. Im Erdgeschoss gibt es in der Regel eine Essdiele und zwei winzige Schlafzimmerchen, unter dem Giebeldach vielleicht noch einen niedrigen Raum, im Hof das Plumpsklo. Und wenn die Romanhelden des 19. Jahrhunderts sich auf ihren Datschen von ihren Domestiken bedienen ließen, so kommen die russischen GroßstädterInnen von heute her, um selbst zu ackern.

„Wir Russen können nicht in der Sonne liegen, wir erholen uns bei der Arbeit“, sagt Anja Bunina, eine Witwe in den Srchzigern, ehemals Bauingenieurin. Ihr kleines Anwesen liegt in einer Siedlung namens „73. Kilometer“. Um die zu erreichen, muss man von Moskau aus 73 Kilometer weit fahren, mit der „Elektritschka“, einer Art S-Bahn. Wie viele PensionärInnen verbringt Anja Bunina den ganzen Sommer von Mai bis September auf der Datscha und gräbt, jätet, wässert von früh bis spät. An den Wochenenden helfen ihr die Töchter Julija und Schenja, beide um die dreißig. Abends, in den Betten, klagen dann alle drei über Gliederschmerzen.

Anja ist sich sicher, dass die Datscha einen wichtigen Beitrag zum Familienbudget leistet: „Den ganzen Winter über brauchen wir kein Gemüse zu kaufen.“ Aber die Töchter bezweifeln diese These: „Ich weiß nicht, ob sich das so gesehen lohnt“, sagt Schenja: „ Schließlich investieren wir hier auch Zeit und Geld. Und in der Stadt haben wir noch Konserven von 1995!“ Das moderne Datschenwesen – so scheint es auf den ersten Blick – verdanken die RussInnen ihrem legendären Hang zum Masochismus.

In der Siedlung „73. Kilometer“ sind die meisten Bauingenieure oder Architekten. Die etwa 150 Grundstücke wurden von einem der großen Moskauer Projektierungsinstitute in den 70er- und 80er-Jahren vergeben. Seit der Breschnew-Ära stellten Produktionsstätten ihren Angestellten Datschengrundstücke zur Verfügung, um sie nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen.

Heute experimentiert man auf der Datscha gern mit Exotischem. Der eine zieht pflaumenblaue Paprika im Treibhaus, die andere Weintrauben an der Veranda. Das bringt Spannung ins Leben: „Montags, am Arbeitsplatz, klagen wir Kolleginnen zuerst: Was haben wir doch dieses Wochenende wieder tierisch geschuftet!“, berichtet Julija Bunina: „Aber dann fragen wir uns gegenseitig: Na, ist bei euch was Neues gewachsen?“ Noch mehr Spannung vermitteln die Diebe, die auch in der warmen Jahreszeit durch die Gegend streichen. Um den 73. Kilometer wurden kürzlich in einer Nacht mehrere Autos gleichzeitig gestohlen.

Die Datschengrundstücke sind der universelle Puffer des russischen Alltags. Sie bewahren die Bürger vor dem russischen Roulett und das Land vor Aufständen. Für arme Rentner fangen ihre Gemüsegärten die finanziellen Härten auf. Bei allen anderen aber dämpfen sie den Druck überschüssiger Energien. Wenn man keine Datscha hätte, dann müsste man einem Hobby frönen, das einen hundertprozentig ausfüllt“, sagt Julija Bunina: „Aber unsere Leute verstehen es noch nicht, etwas Vernünftiges aus ihrer Freizeit zu machen.“

In den letzten Sommern machten sich zudem gewisse Verweichlichungstendenzen breit. In der Siedlung „73. Kilometer“ nehmen die Nutzflächen ab und die Rasen zu. Die Architektin Irina, 35, allein erziehende Mutter, gehört zu einer neuen, moderaten Datschniki-Generation. Seit der Geburt ihrer fünfjährigen Tochter Mascha verbringt sie sehr viel Zeit auf der Datscha ihres Vaters, um das Kind vor der abgasverpesteten Moskauer Stadtluft zu bewahren. „Ich pflanze bloß ein paar Reihen Erdbeeren, weil ich danach absolut verrückt bin“, bekennt Irina: „Aber mein Leben hat sich sehr verändert. Früher nahm ich den Sommer nur in dem einen kurzen Monat wahr, in dem ich Urlaub am Meer machte. Aber seit Mascha und ich von Mai bis September bei jeder Gelegenheit herkommen, ist der Sommer für uns beide ganz groß geworden.“