Atomare Spalt-Tabletten

Siemens-Konzern will stillgelegte Plutoniumfabrik nach Russland exportieren. Nach der Genehmigung einer Munitionsfabrik für die Türkei steht Rot-Grün vor neuer Belastungsprobe

BERLIN taz ■ Der von Siemens geplante Verkauf der Plutoniumfabrik in Hanau und die bereits vom Bundessicherheitsrat genehmigte Errichtung einer Munitionsfabrik in der Türkei drohen für die rot-grüne Koalition zu einer ernsthaften Belastungsprobe zu werden.

Die Landesvorsitzende der Grünen in Niedersachsen, Heidi Tischmann, forderte in der taz die grünen Minister auf, gegenüber Siemens hart zu bleiben: „Es darf keine Exportgenehmigung geben.“ Tischmann wird heute in Berlin zusammen mit der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Ursula Schönberger und dem Sprecher des Energiepolitischen Ratschlags der Bundespartei, Hartwig Berger, eine neue Initiative unter dem Titel „Atompolitische Opposition bei den Grünen“ vorstellen.

Die Gruppierung organisierte sich als Reaktion auf den Atomkompromiss, den die Grünen auf ihrem Parteitag in Münster verabschiedeten. Berger, zugleich auch Abgeordneter im Landesparlament von Berlin, befürchtet eine „Wiederbelebung der Atomwirtschaft“ für den Fall, dass die Anlage nach Russland exportiert wird. Nicht auszuschließen sei, dass dort aufbereitete Brennelemente am Ende wieder an deutsche Kernkraftwerke geliefert würden. Es könne nicht angehen, dass Deutschland „einen Beitrag zum Neuaufbau der AKW-Wirtschaft in Russland leistet, während hierzulande gerade das Ende beschlossen wurde“, so Berger gegenüber der taz.

Unterdessen erklärte Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (SPD) in der Berliner Zeitung, keine Einwände gegen einen Export der Anlage zu haben. „Unter dem Gesichtspunkt des Außenwirtschaftsrechts spricht nichts gegen eine Genehmigung der Ausfuhr.“ Siemens hatte bestätigt, einen entsprechenden Antrag beim Bundesausfuhramt in Eschborn, das zum Wirtschaftsministerium gehört, gestellt zu haben. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Gerd Weisskirchen, verlangte ein baldiges Treffen mit den Grünen: „Wir müssen an das sensible Thema ran.“ Die Hanauer Anlage, die von Siemens für rund eine Milliarde Mark Anfang der 90er-Jahre gebaut wurde, war nie in Betrieb genommen worden. Russland möchte sie auf seinem eigenen Gebiet wieder aufbauen, um Waffenplutonium in neue Brennelemente zu verarbeiten und somit militärisch unbrauchbar zu machen.

Parallel zur Debatte um die Hanauer Anlage geht der Streit bei den Grünen um die jüngste Entscheidung des Bundessicherheitsrats weiter. Das geheim tagende Gremium, dem unter anderen auch Außenminister Joschka Fischer angehört, hatte den Bau einer Munitionsfabrik durch eine deutsche Firma genehmigt. Die verteidigungspolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Angelika Beer, warnte Fischer vor einem Glaubwürdigkeitsverlust der Grünen. „Obwohl wir alle wissen, dass juristische Zwänge nichts an der Realität ändern: Munition ist zum Schießen da! Und im Falle der Türkei wird nicht nur der Verteidigungsfall der Nato geübt, sondern der Krieg im Inneren gegen Teile der Zivilbevölkerung praktiziert.“ Zugleich verlangte Beer in ihrem offenen Brief in Fällen wie dem Export der Munitionsfabrik „Transparenz innerhalb der Koalition und einen Dialog zwischen Regierung und Parlament, wo ohne Öffentlichkeit rechtzeitig Bedenken geltend gemacht werden können“. Beer war nach einem Bericht der taz erst nach der jüngsten Sitzung des Bundessicherheitsrates über die Errichtung der Munitionsfabrik informiert worden. Die Tagungen des Gremiums sind streng geheim. Wenn Informationen in der Vergangenheit durchsickerten, dann geschah dies lediglich auf informellem Wege.

SEVERIN WEILAND

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