Schwieriger Verzicht auf Vergeltung

Sonntag, am „Tag der Heimat“, wird Gerhard Schröder eine Rede zur „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ halten. Heikel: Die Vertriebenenverbände wollen grünes Licht für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“. Osteuropäer befürchten dort Pflege des Revanchismus

von PHILIPP THER

Es wird an diesem „Tag der Heimat“ in Berlin viel von Heimat die Rede sein: der alten Heimat, der verlorenen Heimat und dem Recht auf Heimat. Und gewiss wird Erika Steinbach, Vorsitzende des BdV, diese Gelegenheit nutzen, für ihr „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu werben, das sie in „geschichtlicher und räumlicher Nähe“ zum Berliner Holocaust-Denkmal errichten möchte.

Der Kanzler wird es kaum vermeiden können, dass seine Präsenz am „Tag der Heimat“ als Zustimmung zu diesem Zentrum und vielleicht auch zu anderen Forderungen der Vertriebenenverbände gesehen wird. Vor allem Polen und Tschechien werden darauf achten, wie lange sich Schröder und Steinbach die Hände drücken. Denn die BdV-Vorsitzende hat mehrfach verlangt, beide Länder nur dann in die EU aufzunehmen, wenn sie sich von den Vertreibungen der Deutschen nach 1945 distanzieren und die davon Betroffenen entschädigen.

Der Anlass zum Händedruck zwischen der Hardlinerin vom rechten Flügel der Union und dem Kanzler der neuen Mitte ist die „Charta der Heimatvertriebenen“. Sie war vor fünfzig Jahren die Gründungsakte der Vertriebenenverbände. Im August 1950 erklärten die Vertreter der zwanzig Landsmannschaften in Stuttgart den „Verzicht auf Rache und Vergeltung“.

Allerdings hieß dies nicht, dass sie auf ihre alte Heimat verzichteten. In der Charta klagten die Vertriebenen das „Recht auf Heimat“ ein, also die Rückkehr nach Polen, in die Tschechoslowakei und andere Herkunftsländer. Daneben besaß die Charta eine innenpolitische Stoßrichtung, da sie eine „gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk“ forderte. Kurz darauf war dieses Ziel erreicht, als die Bundesregierung den Lastenausgleich – eingeborene Westdeutsche zahlen eine Sonderabgabe für Vertriebene – beschloss.

Wie erfolgreich die Lobbyarbeit der organisierten Vertriebenen war, belegt die großzügige Unterstützung ihrer kulturellen und politischen Aktivitäten. Bund und Länder verpflichteten sich 1953 im Bundesvertriebenengesetz, die Kultur der Vertriebenen und des Deutschtums im Osten zu fördern. Allein im vorigen Jahr flossen nach diesem Gesetz immer noch über vierzig Millionen Mark an die Vertriebenenverbände. Ursprünglich sollte dieses Geld aber nicht nur die Integration fördern, sondern das Brauchtum der Schlesier, Sudetendeutschen, Ostpreußen, Pommern und aller anderen Landsmannschaften bewahren, damit diese am Tag X mit intakter Kultur in ihre alte Heimat würden zurückkehren können.

Einerseits also die Integration in die bestehende Gesellschaft, andererseits die Forderung nach Rückkehr in die alte Heimat: In den Fünfzigerjahren mag diese Schizophrenie es vielen Vertriebenen erleichtert haben, ihre schlechte soziale Stellung in der Bundesrepublik zu ertragen. Aber spätestens seit den Siebzigerjahren waren die Ansprüche auf eine alte Heimat politisch nicht mehr vermittelbar.

Wie gefährlich das für den Frieden in Europa hätte werden können, belegen Berichte aus dem Grenzgebiet an Oder und Neiße, die nach der Wende in den Archiven der DDR zugänglich wurden. Keine politische Maßnahme stieß in der jungen DDR auf derartigen Widerstand wie die Oder-Neiße-Grenze. Kanzler Adenauer und seine Nachfolger konnten sich ihre Forderungen nach einer Revision dieser Grenze und der Rückkehr der Vertriebenen gut leisten, weil sie nicht damit rechnen mussten, dass dies je Realität würde. Die Rote Armee stand an der innerdeutschen Grenze sowie an Oder und Neiße. Sie zementierte dort in stillem Einverständnis mit den Westmächten den territorialen Status quo der Nachkriegsordnung.

Die Vertriebenenverbände sind ihrem Ziel ferner denn je. Ihr „Tag der Heimat“ oder ihre Pfingsttreffen ziehen heute nicht mehr hunderttausende, sondern allenfalls einige zehntausend Menschen an. Gerade der langsame Tod der Vertriebenenverbände ist aber der Motor für das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin.

Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto größer scheint der Wunsch, das Vermächtnis der Vertriebenen zu fixieren. Dies passt auch in die gegenwärtige Konjunktur von Erinnerungs- und Gedenkstätten in Europa und den USA.

Wobei außer Frage steht, dass Vertriebene etwas Wichtiges zu erzählen haben. Allein in Europa wurden im 20. Jahrhundert mindestens fünfzig Millionen Menschen Opfer von Bevölkerungsverschiebungen. Zudem zeigt das Beispiel des Holocaust, dass Vertreibung und Genozid eng zusammenhängen. Die 550.000 Juden, die aus den westpolnischen, ans Reich angeschlossenen Gebieten 1939 und 1940 zunächst „nur“ vertrieben wurden, gehörten zu den ersten Opern der Gaskammern.

Diese Zusammenhänge fehlen in der Konzeption des geplanten Zentrums – oder werden verzerrt. So erwähnt der Deutsche Ostdienst, in dem der BdV seine Pläne darlegt, mit keinem Wort den Hitler-Stalin-Pakt. Mit ihm schanzte Hitler 1939 der Sowjetunion die östliche Hälfte Polens zu und nahm damit die spätere Westverschiebung des Landes zu Lasten der Deutschen vorweg.

Während die massenhafte Vertreibung und Ermordung von Polen zwischen 1939 und 1945 weitgehend übergangen wird, sieht sich die 1918 gegründete Republik Polen dem Vorwurf ausgesetzt, es habe bereits nach dem Abkommen von Versailles „mittelbare Vertreibungen“ von Deutschen gegeben. Polen ist also erneut ein Staat der Täter und nicht das Opfer mehrfacher Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen mit über zwei Millionen eigenen Staatsangehörigen, die zwischen 1944 und 1946 vertrieben wurden.

Ein konstruktiver Dialog mit den Nachbarländern ist auf dieser Grundlage unmöglich. Viel Raum im Zentrum gegen Vertreibungen soll hingegen die Nachkriegsgeschichte der Vertriebenen einnehmen – vorwiegend die ihrer Integration in die Bundesrepublik. Doch bestand das Leben der Vertriebenen wirklich nur aus einem harten Arbeitsalltag und Brauchtumspflege („Königsberger Klopse“) in der Freizeit?

Trotz ihrer Integration ist die Geschichte der Vertriebenen vor allem ein Beleg dafür, wie schwer sich eine Gesellschaft mit der Aufnahme von Migranten tut. Vertriebene mussten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit als „Habenichtse“, „Polacken“ und „Rucksackdeutsche“ beschimpfen lassen.

Auch wenn sie sich später beruflich und sozial assimilierten, so blieb zwischen den Einheimischen und den Vertriebenen eine Barriere. Mit ihren Erinnerungen an die Flucht, die Plünderungen, Misshandlungen, die Vergewaltigungen von Frauen und das Elend in der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben die Vertriebenen weitgehend allein. Nach 1968 wollten die Einheimischen, häufig auch die eigenen Kinder, von ihrem Schicksal nichts wissen, weil die Aufarbeitung der Schuld der Deutschen am Nationalsozialismus im Mittelpunkt stand. Die häufige Aufrechnerei von Schuld am Holocaust und den Vertreibungsopfern seitens ihrer Verbände trug zu dieser Isolation bei. Sie spiegelt sich heute in der schmalen Trägerschaft des geplanten Zentrums und der bislang ausgebliebenen Debatte um dessen Inhalte.

Obwohl es sich nach den gegenwärtigen Planungen vor allem um ein Zentrum der Vertriebenenverbände und nicht um ein wirklich europäisches Zentrum gegen Vertreibung handelt, behauptet Erika Steinbach, einige Bundesländer und die Regierung schon gewonnen zu haben. Der Kanzler kann politisch nur bestehen, wenn er eine wissenschaftliche Aufsicht über das Projekt und die Beteiligung unabhängiger Fachleute aus dem In- und Ausland sicherstellt.

Auch der versöhnliche Text der Charta sollte nicht zu falschen Schlüssen über die damalige Politik der Vertriebenenverbände verleiten. Erstens wurden dort die NS-Verbrechen und der Zweite Weltkrieg nicht erwähnt, zweitens markierte der bemerkenswerte Verzicht auf „Rache und Vergeltung“ eher ein Ende als einen Anfang. Nach Verabschiedung der Charta verlor der christliche, auf Versöhnung bedachte Flügel unter den Vertriebenenverbänden an Einfluss gegenüber den Nationalkonservativen.

Auf Bundesebene symbolisierte die Entmachtung des ehemaligen Widerstandskämpfers Hans Lukaschek als Vorsitzenden des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen und als ersten Vertriebenenministers diesen Wandel. Abgelöst wurde er von Theodor Oberländer, einem ehemaligen SS-Offizier im besetzten Polen.

Man darf gespannt sein, ob der Kanzler in seiner Ansprache daran erinnert, dass in der „Charta der Heimatvertriebenen“ von Entschädigungen und Vermögensfragen keine Rede war, sondern vor allem von einem geeinten Europa.

PHILIPP THER, 32, arbeitet am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas der Freien Universität Berlin. Von ihm erschien „Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 382 Seiten, 74 Mark