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: HELMUT HÖGE über neue Gewerkschaften

Der Transmeditationssib

Unlängst luden die Anarchos ins Haus der Demokratie zu einer Pressekonferenz mit sibirischen Gewerkschaftern, die eine große syndikalistische Arbeiterselbsthilfe aufgebaut haben.

Solche Ideen sind in Russland nichts Neues. Die drei Sibirier machten einen guten, gefestigten Eindruck. Dass sie hier in Berlin von ihren Erfahrungen berichteten, betrachteten sie als Ausdruck ihres internationalistischen Selbstverständnisses – um einer zukünftig ausgeweiteten Koordination der Kämpfe willen. Ihre Gewerkschaft ist in vielen sibirischen Städten vertreten, besonders in den Bergbaugebieten. Sie war in der Vergangenheit auch beteiligt an der Besetzung der Transsib-Strecke auf der Höhe von Irkutsk. Mit dem medialen „Schienenkrieg“ wollten die Bergarbeiter auf ihre sich rapide verschlechternde Arbeits- und Lebenssituation aufmerksam machen, später organisierten sie noch eine ähnlich partisanische Protestaktion auf einer Moskauer Brücke.

Eine der drei GewerkschafterInnen musste allerdings zugeben, dass solche oder ähnliche Aktionen nicht den Alltag ihrer Organisation ausmachen, da ginge es eher um kleine Hilfsaktionen und Ratschläge. So wurde zum Beispiel in Tscheljabinsk gerade einer Kranfahrerin – einer allein stehenden Mutter mit zwei Kindern, der man endlich eine Werkswohnung versprochen hatte – die Arbeitsstelle gekündigt, und nun stehe sie buchstäblich auf der Straße. Ihr versuche man im lokalen Gewerkschaftsbüro zu helfen: „so gut es geht“.

Das Gespräch im Haus der Demokratie wandte sich dann wieder den größeren – anarchistischen – Zusammenhängen in Sibirien und im Rest der Welt zu. In der Jungle World las ich später ein Interview mit einem der drei Arbeiterdelegierten: Es drehte sich um Putin und die neue russische Führungsschicht – wohin steuert sie?

Ich war enttäuscht. Gerne hätte ich noch mehr über die kleinen Hilfsaktionen und Ratschläge für den sibirischen Alltag erfahren. Es gibt ein Buch über die Arbeitskämpfe in den sibirischen Kohleregionen – von einem Freund Victor Schulmanns geschrieben, aber es hört 1992 auf, und der Basisdruck Verlag hat kein Geld, um es vom Autor aktualisieren zu lassen.

Es ist sehr schwierig, Einzelnen zu helfen – auf zehn vergebliche Versuche kommt ein halber Erfolg. So schickte ich neulich zum Beispiel der Sibirierin Jana 300 Mark, die ihr für den Erwerb einer kleinen Wohnung in Irkutsk noch fehlten. Das Geld war für einen Vermittler bestimmt. Der machte sich jedoch damit aus dem Staub – noch bevor Jana die Wohnung bekommen hatte.

Aus Frust wollte sie sich daraufhin vom Rest ihres Geldes einen Fiat kaufen – wieder fehlten ihr 300 Mark. Da sie sich nicht traute, mich erneut zu fragen, borgte sie sich das Geld von einem Wucherer. Der Fiat brach ihr schon nach wenigen Tagen mit einem Getriebeschaden zusammen. Nun hat sie weder eine Wohnung noch ein Auto, dafür aber jede Menge Schulden.

Einen Trost habe sie jedoch, schrieb sie mir: Die Briefe, in denen man sein Leid beklage, lassen sich weitaus angenehmer schreiben als alle anderen. Immer wieder will sie weg von dort, kommt aber einfach nicht los, außerdem gehört enorm viel bürokratischer Aufwand dazu und auch Glück. Die Botschaften wickeln ihre Visaerteilungen inzwischen fast alle wie eine Lotterielosziehung ab. Und dann weiß sie eigentlich gar nicht, wohin, geschweige denn, was sie dann dort – wo auch immer – überhaupt machen soll.

Hierbei Ratschläge zu geben, das ist noch schwieriger, als eine Blitzanweisung mit weiterem Geld nach Irkutsk zu schicken. Sie hat sich jedoch derartiges verbeten mit der Bemerkung: „Ich glaube, ich brauche jetzt diesen Druck ein bisschen, damit ich überhaupt meinen Arsch wieder hochkriege.“